Wort zum zweiten Advent 2021
„So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung!“ Ein Prophet im 6. Jahrhundert vor Christus hat diesen Satz formuliert, ausgesprochen oder geschrien in das Ohr Gottes, in der verzweifelten Hoffnung, Gott möge ihn hören.
„Wo ist nun dein Eifer und deine Macht?“ Gott hat sich abgewandt: So empfindet es der Prophet. Der Himmel ist hart und kalt wie ein Stein. Und der Prophet klagt: „Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.“
Und aus dieser Klage wächst ein dringender Appell an diesen fernen Gott. Mit Worten, die sich schon fast am Himmel vergreifen und Gott aus seiner Verborgenheit heraus- und herunterzerren wollen, ruft er: „Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab.“
Im Buch des Propheten Jesaja lesen wir: So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name.
Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.
Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten, und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! Auch hat man es von alters her nicht vernommen. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren. (Jesaja 63,15 – 64,3)
100.000 haben wir zu Grabe getragen. Es werden jeden Tag mehr. Zwei Jahre Pandemie liegen nun fast schon hinter uns und die Hoffnung hat es schwer. Von den 6 Millionen Erkrankten sind viele wieder gesund. Gott sei Dank! Aber es gibt auch die, die diese Krankheit noch immer nicht überwunden haben, die weiter leiden, still, und deren Hoffnung schwindet.
Wir können unsere Kinder nicht beschützen. Sie brauchen Nähe. Wir brauchen Nähe. Wie viel Einsamkeit und Verzweiflung umgibt unsere Kranken in den Kliniken? Wie viele warten auf eine Behandlung oder eine Operation ohne Perspektiven. Wir leben mit Fragen, auf die niemand eine Antwort wissen kann.
Was für eine Art von Müdigkeit ist das, die unsere Politiker so sehr lähmt, dass ihre Maßnahmen kraftlos erscheinen und ihre Appelle sinnlos wirken? Welche Kraft ist es, die unsere Gesellschaf so sehr spaltet und radikalisiert, dass selbst Familien zerrissen werden? Und welche Kraft könnte diese Zerrissenheit, diese Ratlosigkeit, diesen immensen Schaden je wieder heilen?
Der Prophet des Alten Testaments schreit zum Himmel. Und irgendwie scheint dieses Schreien auch etwas zu bewegen, was nach Trost aussieht und neue Hoffnung schenkt. Der Prophet schließt seine Klage mit den merkwürdigen Worten: Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.
Hinter der Spaltung der Menschen in Sachen Corona, verbunden mit der Frage, ob man sich impfen lässt oder nicht, wird eine ganz andere Zerrissenheit mit einer ganz anderen Fragestellung offenbar, die unsere Gesellschaft spaltet: Es ist die Frage nach dem, was ein Mensch hofft, was sein Trost und sein Glaube ist, was trägt in der Zeit der Not. Wir leben nicht nur in einer medizinischen Notlage, wir leben auch in einer religiösen Notlage.
Es gibt heute viele, die sagen, Religion und Glaube sind überflüssig, Ballast, auf den ich verzichten kann. Für andere ist Religion und Glaube das, was trägt, wenn alles andere zerfließt. Und im Kern geht es im Glauben immer um die Kraft des Gebets, dass ich nämlich vor Gott aussprechen kann, was mich bewegt, auch meine Wut, meine Verzweiflung und meine eigene innere Zerrissenheit.
Der Prophet spricht es aus, was ihn bewegt. Er schreit es aus sich heraus: Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab. Und er findet darin die Kraft, den Mut und die Zuversicht, die er und die Menschen seiner Zeit brauchen, um ihren Weg in eine ungewisse Zukunft zu gehen.
Zur Zeit des Propheten waren die Menschen in Jerusalem damit beschäftigt, die Stadt nach der Zerstörung neu aufzubauen. Aber die großen Hoffnungen, die mit der Heimkehr aus der Gefangenschaft verbunden waren, stürzten kartenhausmäßig mehr und mehr in sich zusammen. Mit dem neuen Tempel sollte Gott in der Mitte der Gesellschaft wohnen, sein Recht und seine Gerechtigkeit zum Maßstab des Zusammenlebens werden. Aber die Menschen waren die alten geblieben. Jeder war sich selbst der Nächste. Jeder dachte zuerst an seinen Vorteil. Das Gespür dafür, wo die Freiheit des Einzelnen endet, wenn es um das Wohl aller geht, war verkümmert. Religion war zu einer äußeren Pflichterfüllung verkommen.
Der Prophet sagt: Es reicht nicht, Gott einen Tempel aus Stein zu bauen. Gott will in den Herzen der Menschen wohnen. Da, wo die Habgier sitzt und den Menschen beherrscht, wo der Egoismus wohnt, da will Gott mit seiner Liebe den Menschen von innen heraus verändern.
Wir spüren das ganz besonders in dieser Advents- und Weihnachtszeit, wenn wir alle Festvorbereitungen getroffen haben, und es dennoch nicht Weihnachten werden will. Es duftet nach Weihnachtsgebäck und Tannengrün, aber das Kind in der Krippe will seinen Platz in den Herzen der Menschen finden. Die Liebe, die Jesus Christus in das Herz eines Menschen hineinträgt, die verändert ein Leben zum Guten und lässt am Ende Weihnachten Wirklichkeit werden. Gott öffnet den Himmel, er lässt sich bewegen, kommt als Kind, als Mensch zu den Menschen.
Zu allen Zeiten haben Erfahrungen des Leides und der Not Menschen ins Nachdenken gebracht, dass sie den Weg zu Gott gesucht und ihn gefunden haben. Immer wieder gab es in der Geschichte auch Aufbrüche und die Hinwendung zu neuer Gerechtigkeit und Frieden. Aber immer wieder haben Menschen ihren Glauben wieder vergessen und verdrängt. Und da, wo Gott mit seinem guten Willen vergessen wird, da machen sich dann von Neuem die Kräfte breit, die unser Leben mit globalen Folgen zerstören, die Unvernunft, die Eitelkeit, die Bequemlichkeit, die Habgier und der Machthunger.
Die alten Worte des Propheten sollen uns auch heute daran erinnern, dass wir mit unserem Glauben an unserem Gott festhalten. Wir sollen uns nicht zerreißen lassen, sondern sollen Frieden finden. Gott will mit seinem Segen unsere Zerrissenheit heilen.
Der Prophet aus dem 6. Jahrhundert vor Christus erinnert uns heute daran, dass Gottes Hilfe immer nur ein Gebet weit von uns entfernt ist, dass Gott selbst der Grund unserer Hoffnung ist und bleibt – in aller Not und Traurigkeit. Amen
Ihr Pfarrer Rainer Janus