Wort zum Sonntag Trinitatis
In einer Geschichte heißt es:
Es war einmal eine Spinne. Sie lebte in ihrem Netz herrlich und in Freuden. Die Zeiten waren gut, und es flog ihr viel kleines Getier in die feinen Maschen. Das Spinnchen wurde davon dick und behäbig.
Alles war gut, bis die kleine Spinne eines Tages beschloss, ihr Netz zu inspizieren, zu modernisieren und zu optimieren, um noch einmal bequemer und sorgloser leben zu können.
Sie krabbelte in die Mitte ihres Netzes und begann von dort aus, jeden einzelnen Spinnenfaden zu überprüfen. Alles schien gut und richtig zu sein. Kein Faden war zu wenig und keiner zu viel. Jeder schien dringend notwendig zu sein.
Schließlich aber fand sie einen Faden, der gerade nach oben lief. In diesem Faden hatte sich noch nie eine Fliege gefangen. Er war also überflüssig. Weg damit! Die Spinne biss den scheinbar unnützen Faden ab – und das Netz fiel in sich zusammen.
Es war der Faden gewesen, an dem das ganze Netz aufgehängt war.
Der Apostel Paulus schreibt in seinem Brief an die Römer: O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?« Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen. (Römer 11, 33-36)
Glaube und Zweifel liegen oft sehr nahe beieinander. Und wenn von den unerforschlichen Wegen und der unbegreiflichen Gerechtigkeit Gottes die Rede ist, dann stehen dahinter unendlich viele Fragen, die keine Antwort finden und die uns Menschen an der Gegenwart und der Existenz Gottes zweifeln lassen.
Manchen Menschen geht es so wie der kleinen Spinne aus unserer Geschichte. Sie wollen bequem und sorglos leben. Und irgendwann haben sie vergessen, an welchem seidenen Faden ihr Leben und Wohlbefinden hängt. Sie entfremden sich von Gott. Sie hören auf zu beten. Und das Kappen der Verbindung am Ende ist dann ein Akt der Resignation. Sie werfen ihren Glauben wie Ballast über Bord, auch deshalb, weil ihnen ein Ringen um Gott viel zu mühsam scheint.
Ich kann sehr gut verstehen, dass Menschen auch und gerade heute nach Gerechtigkeit und nach den Wegen Gottes fragen. Warum müssen in der Ukraine so viele Menschen sterben: Zivilisten ohne Waffen in ihren Händen und Kinder, die eine Zukunft haben sollten? Und wir haben nicht nur einen grausamen Krieg, nicht nur eine Hungersnot, nicht nur eine schreckliche Naturkatastrophe, nicht nur einen Amoklauf und nicht nur einen Verkehrsunfall. Wie kann Gott das alles zulassen, wenn er doch angeblich alle seine Geschöpfe so sehr liebt?
Im Unterschied zu vielen Menschen heute, gibt der Apostel Paulus nicht auf. Paulus war der Intellektuelle unter den Aposteln. Und er macht es sich nicht leicht. Er ringt um ein Verstehen. Er greift die Fragen des christlichen Glaubens auf, durchdenkt sie und versucht in seinen Briefen rationale Antworten zu formulieren. Antworten, die uns helfen sollen, bei der Entscheidung, ob auch wir die Reißleine ziehen, oder ob wir dranbleiben, wohl wissend, dass wir weiterhin auch mit offenen Fragen leben werden.
Vielleicht gibt der Apostel sich deshalb so viel Mühe mit diesem Gott, weil er weiß, dass eben dieser Gott, sich ebenfalls große Mühe macht für ihn. Natürlich kann man das Leben und die Natur einfach als Zufallsprodukt abtun. Aber wäre das nicht viel zu einfach angesichts der Komplexität der Zusammenhänge, die das Leben erst ermöglichen?
Wer das Straßburger Münster kennt, der kennt auch die astronomische Uhr neben dem Engelspfeiler. Sie stammt aus dem Jahr 1842 und zeigt die Erdbahn, die Mondbahn und die Bahnen der damals bekannten Planeten an. Am erstaunlichsten ist das Räderwerk, das in der Silvesternacht abläuft und das Basisdatum für die beweglichen Feiertage errechnet. Unzählige Rechenvorgänge hat der Uhrmacher Jean Baptiste Schwilgué in eine komplizierte Mechanik umgesetzt, die den Verlauf der Welt nachbildet. Und doch beschreibt diese Uhr nur einen winzigen Ausschnitt der Komplexität des Lebens und der Natur.
Wir können heute mit unseren Computern und mannigfaltigen wissenschaftlichen Möglichkeiten millionenfach mehr als dieser geniale Uhrmacher vor fast 200 Jahren, aber immer noch verstehen wir nur einen winzigen Bruchteil von dem, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wir dürfen auf der einen Seite stolz sein, über das, was des Menschen Geist gelingt, aber wir müssen auf der anderen Seite auch bescheiden bleiben, gegenüber dem, was größer, was unbegreiflich und unerforschlich ist.
Auch dem Apostel Paulus gelingt es nicht die Gedanken Gottes zu verstehen. Er beschäftigt sich mit einer Frage, die ihn seit vielen Jahren umtreibt: Warum nimmt das Volk Israel, das Volk Gottes zum allergrößten Teil gar nicht wahr, dass sich Gott in Jesus offenbart hat? Das ist kein theoretisches Problem für Paulus. Es ist für ihn ein schmerzliches existenzielles Problem, da er selbst Jude war und von Geburt an zum Volk Israel gehört und sein Volk liebt. Und so fragt er sich. Warum öffnet Gott seinem geliebten Volk nicht einfach die Augen für seinen geliebten Sohn?
Ich denke: Paulus packt damit ein Thema an, das uns auch heute noch auf der Seele liegt und das Herz und den Glauben schwer macht, denn wie kein anderes Volk verkörpert Israel die Rätselhaftigkeit Gottes: Obwohl Gott dieses Volk doch angeblich liebt wie seinen Augapfel, muss dieses Volk im Lauf der Geschichte doch immer wieder leiden wie kein anderes.
Wir können uns anschließen mit unseren Fragen: Warum müssen wir Krankheit und Schmerzen leiden? Warum müssen wir Abschied nehmen, manches Mal allzu früh und allzu schnell? Warum triumphiert das Böse mit Waffen und Gewalt? Warum sorgt Gott nicht dafür, dass unsere Kinder alle zum Glauben finden? Warum lässt er nicht einfach alles gut werden? Warum ergreift er mit seinem Geist nicht einfach die Völker, dass sie verstehen und glauben und nach seinem guten Willen leben und Frieden und Gerechtigkeit aufrichten in der Welt?
Alle diese Fragen der Menschen sind nicht neu. Paulus zitiert den Propheten Jesaja und das Buch Hiob. „Wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“, so fragt Jesaja. Und Hiob fragt: „Wer hat Gott etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste? Mit diesen beiden Zitaten packt Paulus zwei heiße Eisen an: Denn sowohl Jesaja als auch Hiob sind beste Beispiele für die Rätselhaftigkeit Gottes. Sowohl Jesaja als auch Hiob waren im besten Sinne fromme Menschen und haben in ihren Leben doch mehr Leid auszuhalten gehabt als man, sprichwörtlich, seinem schlimmsten Feind wünschen möchte. „Warum lässt Gott so etwas zu?“ Die meisten von uns kennen solche Fragen auch aus ihrem eigenen Lebenshorizont: Frömmigkeit und lebendige Glaubenspraxis schützen nicht vor Leid und Verzweiflung. Wer die Geschichten von Jesaja und Hiob nachliest, muss sogar fast den Eindruck gewinnen, dass es einem Menschen umso schlechter ergeht, je mehr er sich mit Gott beschäftigt, je mehr er sich auf Gott einlässt.
„Wie unerforschlich ist alles, was Gott tut.“ Glauben heißt bei Paulus auch, Zweifel ertragen zu können. Und Paulus resigniert nicht. Paulus zeigt uns hier einen Weg mit den offenen Fragen umzugehen. Er nennt das beim Namen, was er nicht verstehen kann. Er kämpft damit. Er ringt darum.
Und er kommt durch sein Nachdenken ins Staunen. Es war für ihn unbegreiflich, weshalb Gott seinem geliebten Volk nicht einfach die Augen für seinen geliebten Sohn geöffnet hat. Doch dann wurde ihm der viel größere Blick geschenkt. Durch das Nicht-Verstehen des Volkes Israel können all die anderen Völker zum Glauben an Jesus Christus finden. Und zugleich lässt Gott sein geliebtes Volk nicht fallen. Wenn all die anderen Völker zum Glauben an Jesus Christus gefunden haben, dann wird auch sein Volk ihn verstehen. Was für ein erstaunlicher Gedanke!
Das Gottesvolk behält seinen Platz im großen Heilsplan Gottes. Aber so wie Gott der Schöpfer allen Lebens ist, so will er auch der Erlöser und Bewahrer allen Lebens sein. Durch Israel sind alle Völker, Menschen, Geschöpfe auserwählt für eine Zukunft bei dem, der nicht der Zeit und der Vergänglichkeit unterworfen ist.
Paulus würde sagen, dazu hat Gott uns den Verstand gegeben, dass wir nachdenken und uns mühen, auf die Fragen des Lebens und des Glauben Antworten zu suchen. Und auch wenn Gott am Ende unseres Nachdenken immer noch der Unerforschliche bleibt, so werden wir doch miteinstimmen können in den Lobpreis des Apostels: O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?« Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Ihr Pfarrer Rainer Janus