Wort zum Sonntag Trinitatis – 30. Mai 2021

Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster der Juden.

Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.

Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.

Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?

Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist.

Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.

Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie mag das zugehen? 

Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du bist Israels Lehrer und weißt das nicht?

Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben, und ihr nehmt unser Zeugnis nicht an. Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage? Und niemand ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herabgekommen ist, nämlich der Menschensohn. Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.

Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse.

Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind. (Johannes 3)

In der Nacht sind alle Katzen grau, sagt das Sprichwort. Man hat Nikodemus vorgeworfen, dass er im Schutze der Dunkelheit zu Jesus gekommen ist, weil er nicht gesehen und erkannt werden wollte, und weil der Kontakt mit Jesus seinem öffentlichen Ansehen geschadet hätte.

Aber so ist es nicht. Mit diesen Verdacht tut man dem Pharisäer und Obersten der Juden unrecht. Denn auch als Jesus bei Nacht und Nebel im Garten Gethsemane verhaftet wurde, hat Nikodemus kein Hehl gemacht aus seiner Sympathie zu Jesus. Er war es, der auf eine gerichtliche Anhörung Jesu bestand (Joh 7,50f) und später mit für seine Bestattung gesorgt (Joh 19,39) hat. So berichtet es der Evangelist Johannes.

Warum also kommt Nikodemus wie ein Dieb in der Nacht? Vielleicht gibt es Gespräche und Gedanken, die in der Geschäftigkeit des Tages keinen Ort haben. In den heißen Ländern des Mittelmeerraumes beginnt das Leben oft erst in den kühleren Abend- und Nachtstunden.

Wer kennt die Situation nicht, dass wir am Abend oder in der Nacht unseren Gedanken nachsinnen und, weil es Abend oder Nacht geworden ist, die Vergänglichkeit des Irdischen in den Blick kommt, und damit verbunden die Frage nach Zukunft und Sinn dieses Lebens.

„Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.“ Mit dieser anerkennenden Feststellung stellt Nikodemus auch eine Frage: „Wer bist du eigentlich, Jesus?"

Die Reaktion Jesu ist befremdlich. Er antwortet weder auf die Feststellung noch auf die hinter ihr stehende Frage des Nikodemus. Ja, man kann den Eindruck bekommen, dass hier zwei Menschen völlig aneinander vorbeireden. Nikodemus ist an der Person Jesu interessiert. Aber Jesus spricht von einer erneuten Geburt als Voraussetzung für die Einsicht in Gottes Reich.

Aber bei der Frage „Wer bist du eigentlich, Jesus?“ geht es ja in Wirklichkeit um die Göttlichkeit Gottes. Es geht um die Frage, ob und wie Gott in der Geschichte der Menschheit wirkt, ob und wie er sein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens aufrichtet mitten unter uns.

Wenn Jesus nicht der von Gott gesandte Retter ist, wenn er nur ein Rabbi von vielen anderen ist, ein Religionsgründern neben anderen, dann bleibt alles beim Alten. Wenn aber in und durch Jesus Gott selbst spricht und handelt, dann bricht eine neue Zeit an im Heilsplan Gottes, dann rückt das Reich Gottes, die Gerechtigkeit und der Frieden auf Erden in greifbare Nähe.

Glaubensfragen werden immer zu Lebensfragen. Und Lebensfragen finden ihre Antwort im Glauben. Und wenn Nikodemus wissen will, wer Jesus eigentlich ist, dann will er wissen, ob Jesus sein Leben verändern kann, ob Jesus graue Theorie überwinden und das Leben mit der Farbe, Energie und Freude füllen kann, die es eigentlich haben sollte.

Diese Erneuerung des Lebens, diese geistliche Wiedergeburt, ereignet sich, wenn Menschen beginnen, diesem menschenfreundlichen Gott zu vertrauen, wenn sie sich von seiner Liebe bewegen lassen. Und dahinter steckt jener Geist, den Jesus seinen Jüngern hinterlassen hat, als Trost und als Hoffnung.

Jesus sagt: „Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“ Wasser und Geist, Taufe und Glaube gehören zusammen. Es sind Gottes Gaben, die dem Menschen unverfügbar bleiben, wie der Wind, der weht, wo er will.

Die Taufe allein wird niemanden retten. Wasser muss man trinken, wenn es den Durst löschen soll. Wie und wo der Geist Gottes uns bewegt, das haben wir nicht in der Hand, aber wir können uns dem Geist Gottes öffnen und in der Stille, im Gebet auf seine Stimme hören.

Ein wenig Verwunderung kommt in Jesu Worten zum Ausdruck, wenn er den gelehrten Pharisäer und Obersten der Juden auf sein Lehrersein anspricht: Du bist Israels Lehrer und weißt das nicht?

Jesus steht mit dem, was er sagt, in der Tradition des Alten Testaments. Es ist keine neue Lehre, die er verkündigt. Es ist auch kein neuer Glaube, den er predigt. Das Judentum ist und bleibt die Wurzel des Christentums. Wir glauben an denselben, einen Gott. Nur dass dieser alte Gott sich neu offenbart in Jesu Wort und im Geist seiner Liebe. Die christliche Kirche macht das deutlich mit der Rede von den drei Personen, den drei "Gesichtern" Gottes: Vater, Sohn und Heiliger Geist.

Und Gottes Geist bleibt weiter Tag für Tag unter uns wirksam und schenkt uns Kraft und Zuversicht. Gott überlässt uns nicht uns selbst. Er schließt uns im Geist der Nächstenliebe als Schwestern und Brüder zusammen. Von ihm habe ich Energie und Hoffnung für mich, für andere und für diese ganze Welt.

Das Nachtgespräch zwischen dem Lehrer Israels und dem Rabbi aus Nazareth bleibt kein gelehrtes Lehrgespräch. Denn aus Jesu Worten wird klar. Das Reich Gottes bleibt nicht den Pharisäern und gesetzestreuen Juden vorbehalten. Gott liebt alle seine Geschöpfe gleichermaßen. Er will, dass allen Menschen geholfen wird, und sie zur Wahrheit finden, zum Licht, zur Liebe und zum Frieden. Auch Nikodemus steht vor der Entscheidung: Öffnest du dein Herz für die Liebe Gottes, für das Wirken seines Geistes in dir und durch dich.? Willst Du ein neues Leben beginnen, ein Leben, das Zukunft hat in Zeit und Ewigkeit?

Wir erfahren im Evangelium nicht, wie dieses Nachtgespräch ausgegangen ist, was der Lehrer Israels mit Namen Nikodemus in dieser Nacht gelernt hat. Aber wir wissen, dass die Mitte der Nacht der Beginn eines neuen Tages ist. Jede Stunde unseres Lebens bringt uns Gott näher. Wir hoffen und glauben, dass der Gott sein Werk vollenden wird durch den Geist seiner Liebe, die in unseren Herzen wohnt. Diese Welt mit ihrer Habgier und Bosheit, Gewalt und Krieg wird vergehen, was bleibt und Bestand hat sind Glaube, Hoffnung und Liebe, die Gaben seines Geistes, aber die Liebe ist die Größte unter ihnen. Amen.

Ihr Pfarrer Rainer Janus