Wort zum Sonntag Sexagesimae

Das Bibelwort für den Sonntag Sexagesimae steht im Hebräerbrief im vierten Kapitel:

Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.

Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen. (Hebräerbrief 4, 12.13)

Gottes Wort ist ausgesät in allen Ländern und Sprachen. Ukrainer hören Gottes Wort und Russen. Afghanen hören Gottes Wort und Syrer. Chinesen hören Gottes Wort und Deutsche. Aber nicht überall fällt Gottes Wort auf fruchtbaren Boden. Nicht überall bewirkt es eine Veränderung zum Guten. Dennoch ist Gottes Wort nicht tot, sondern lebendig. Es ist nicht schwach, sondern kräftig. Es ist nicht stumpf, sondern schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und es bleibt nicht an der Oberfläche, sondern es dringt durch Mark und Bein, es scheidet Seele und Geist, es ist Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.

Ich kann mir vorstellen, dass es manch einem beim Hören dieses Bibelworts eher ungemütlich geworden ist. Es ist ja ein ziemlich unangenehmer Gedanke, von einem Schwert „bedroht“ zu werden, ganz egal, ob es sich um ein einschneidiges oder ein zweischneidiges Schwert handelt. Aber es ist nun einmal eine Erfahrung unseres Lebens, dass die Wahrheit unerbittlich ist. Und Gottes Wort ist die Wahrheit: Die Wahrheit über uns selbst, über unser Leben, das oftmals so ganz anders ist als die schöne Maske, die wir nach außen tragen.

Gott kennt uns bis auf den Grund unserer Seele. Was wir an bösen Gedanken und Wünschen mit uns herumtragen, das bleibt Gott nicht verborgen. In unserem Bibelwort heißt es ja: Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen.

Es hat etwas Bedrohliches dieser Gedanke. Da wird manch einer sagen: Gottes Wort macht mir Angst. Ich weiß, dass ich verletzlich bin und ich möchte nicht bloßgestellt werden. Vielleicht ist das für viele Menschen ein Grund, dass sie die Bibel nicht lesen und auch nicht in die Gottesdienste kommen und die Predigt über Gottes Wort nicht hören wollen. Sie bekommen es mit der Angst zu tun, mit der Angst vor der Wahrheit über ihr eignes Leben. Unangenehme Angst ist die eine mögliche Reaktion.

Manche werden diese Bibelworte auch ganz anders empfunden haben: Vielleicht haben sie gedacht: Ich spüre gar nichts davon, dass Gottes Wort lebendig und wirksam sein soll. Ist dieses Schwert nicht längst schon stumpf geworden? Und müsste nicht diese Welt ganz anders aussehen, wenn dieser Gott noch etwas zu sagen hätte in dieser Welt? Ist Gottes Wort nicht Schall und Rauch, wie so manches Menschenwort?

So manch einer hegt und pflegt Zweifel in seinem Herzen und würde vielleicht gerne mehr haben als nur das Wort. Aber Glauben heißt nicht „Wissen“, sondern „Vertrauen“ – und Gott hat durch sein Wort die Basis für unser Vertrauen geschaffen. Zu unserer menschlichen Freiheit gehört es, in unserem Misstrauen und in unserem Unglauben zu verharren.

Es mag verschieden sein, welche Gedanken uns bewegen, wenn es um das lebendige Wort Gottes geht. Vielleicht macht uns manchmal auch beides zu schaffen: die Angst vor der Wirksamkeit und das mangelnde Vertrauen in seine Kraft. Und dennoch ist und bleibt Gottes Wort eine Kraft, die Menschenleben verändert und befreit. Das war schon zu Zeiten des Alten Testaments so. Und noch einmal deutlicher geworden ist die heilende und befreiende Wirkung im Neuen Testament, wo das Wort Gottes Gestalt angenommen hat in Jesus Christus. Ganz am Anfang des Hebräerbriefes heißt es: Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn. Und so möchte ich heute zwei Geschichten vom lebendigen Wort Gottes in Erinnerung rufen, die er Verfasser des Hebräerbriefes vielleicht im Hinterkopf hatte, als er die Gedanken vom lebendigen Wort Gottes zu Papier brachte.

Die erste Geschichte ist aus dem Alten Testament und handelt vom König David, vom dem die Bibel ja sehr viel Gutes zu berichten weiß, von seinem Vertrauen zu Gott auch in schweren Zeiten, wie das ja auch in den Psalmgebeten anklingt, die ihm zugeschrieben werden. Aber die Bibel weiß nicht nur Gutes zu berichten von diesem David. Da gab es auch dunkle Seiten in seinem Leben.

Eines Tages fand David Gefallen an Batseba, der schönen Frau des Hetiters Uria. Uria kämpfte gerade als Soldat in Davids Heer im Krieg gegen die Ammoniter. Während seiner Abwesenheit holte David diese Batseba zu sich und beging mit ihr Ehebruch. Und Batseba erwartete ein Kind von David. Um der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen zu müssen und die Folgen dieses Ehebruchs zu vertuschen und Batseba heiraten zu können, schickte der König ihren Mann Uria während des Kampfes in ein „Himmelfahrtskommando“, so dass Uria den Tod fand. Und nach Ablauf der Trauerzeit holte David Batseba in seinen Palast und heiratete sie. Das alles lesen wir in 2. Samuel 11. Dieses Kapitel schließt mit dem bedeutungsvollen Satz: Aber dem HERRN missfiel die Tat, die David getan hatte.

Und schon im nächsten Kapitel der Bibel ist davon die Rede, dass Gott David für sein Verhalten zur Rechenschaft zieht. Er sendet ihm den Propheten Nathan in den Palast. Dieser soll den König von seinem Unrecht überzeugen. Wort Gottes bedeutet hier nicht, dass der Prophet dem König die Wahrheit über sein Vergehen um die Ohren haut, sondern das Wort Gottes ist hier ein seelsorgerliches Wort, das dem König die Einsicht ermöglicht, unrecht gehandelt zu haben. So erzählt Nathan dem König zunächst ein Gleichnis: Ein reicher Mann erhält Besuch. Obwohl der Reiche viele Schafe hat, nimmt er seinem armen Nachbarn, der nur ein einziges Schaf besitzt, dieses eine Schaf weg und lässt es als Braten für seinen Besuch zubereiten.

Als David das hört, entrüstet er sich über den Reichen und spricht ihn des Todes schuldig. Und in diesem Moment sagt Nathan ihm das entscheidende Wort: „Du bist der Mann!“ Das heißt: Du hast - obwohl so viele Frauen in deinem Harem sind - deinem Nachbarn Uria seine einzige Frau weggenommen und darüber hinaus diesen Uria umgebracht.

Wie reagiert David auf das Wort Gottes aus dem Munde des Propheten? Die Wahrheit, die Nathan ihm in seelsorgerlicher Weise über sein Verhalten aufgedeckt hat, erschlägt ihn nicht. Er streitet sie nicht ab, er kann die Bloßstellung ertragen und zugeben. „Da sprach David zu Nathan: Ich habe gesündigt gegen den HERRN.“ Und Nathan erwidert im Auftrage Gottes: Weil du deine Sünde bekennst, „hat auch der HERR deine Sünde weggenommen; du wirst nicht sterben.“

Gottes Wort ist ein Wort der Wahrheit, das aber nicht unbarmherzig aufdeckt, sondern so, dass wir Menschen es ertragen können und zur Einsicht kommen. Denn Gott will unser Leben und nicht unser Verderben. Er will unsre Umkehr von einem falsch eingeschlagenen Weg, nicht aber unseren Untergang. So ist das Wort der Wahrheit, dass in Liebe ausgerichtet wird, ein wirksames, lebenserhaltendes Wort. Und es ist zugleich ein Wort der Gnade. David durfte das erfahren. Er - der von Gottes Wort Getroffene und Bloßgestellte - sieht sein Unrecht ein, bekennt seine Sünde und darf ein Wort der Vergebung empfangen.

Verlassen wir das Alte Testament. Der Hebräerbrief sagt uns, dass insbesondere auch Christus uns zeigen kann, was Wort Gottes für uns ist. Die Geschichte, an die ich sie erinnern will, ist sicherlich bekannt. Wir bleiben beim Thema. Es ist die Geschichte von der Ehebrecherin, die man in flagranti beim Ehebruch ertappt hatte. Man führte sie zu Jesus, um zu sehen, ob er sie nach alttestamentlichem Recht zur Steinigung verurteilt. Jesus beachtet die Leute zunächst nicht, sondern er malt mit den Fingern im Sand. Als sie ihn zu einer Entscheidung drängen, sagt er den alles entscheidenden Satz: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Dieses Wort trifft. Nach und nach stehlen sich alle davon. Jesus und die Frau bleiben allein zurück. Da spricht er zu ihr: „Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verurteilt?“ Sie antwortet: „Niemand, Herr.“ Darauf spricht er - der Sündlose, der den Stein hätte werfen können - zu ihr: „Auch ich verurteile dich nicht; geh hin, doch sündige von jetzt an nicht mehr!“

Gottes Wort deckt auf. Es deckt in diesem Falle auf, dass alle Menschen Sünder sind, dass sich also niemand über einen Menschen erheben kann, dessen Sünde offenbar wurde. Aber Gottes Wort drückt gegenüber der Sünde nicht einfach die Augen zu. Unrecht bleibt Unrecht, und Ehebruch ist eine Verletzung des Willens Gottes. Jesus sagt der Frau nicht: Es ist Gott ganz egal, dass du Ehebruch begangen hast - Gott liebt dich so oder so. Mit solcher Rede würden wir Gott nicht ernst nehmen.

Jesus weiß um die Sünde der Frau, aber er verurteilt sie nicht, sondern er vergibt. Aber er erwartet von ihr, dass sie umkehrt und sich in Zukunft anders verhält als bisher: „Geh hin, sündige von jetzt an nicht mehr!“

Es ist hier in dieser Geschichte nicht anders als bei David. Vor Gottes Wort wird offenbar, dass wir Menschen Sünder sind. Aber Gottes Wort will uns nicht kaputtmachen, sondern es will, dass wir unser Leben stärker an Gottes Willen ausrichten als bisher. David bekennt seine Sünde und empfängt ein Wort der Gnade: Gott vergibt ihm, er muss nicht sterben. Und auch die Frau darf neu anfangen. Wahrheit und Gnade schließen sich nicht aus, sondern Gottes Wort ist ein Wort der Wahrheit und der Gnade. Wie es schon beim Propheten Hesekiel heißt: Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? (Hesekiel 18, 23).

Wann und wie spricht Gott sein wirksames Wort zu uns? Wenn wir an das Beispiel von König David zurückdenken, dann wird dort besonders deutlich, wie wir Gottes Wort an uns wirksam erfahren. Der Prophet Nathan sagt: „Du bist der Mann“. Und David erkennt das an: „Ich bin gemeint.“ Gott hat dann wirksam zu mir gesprochen, wenn ich erkenne, dass ich gemeint bin. Wenn ich von seinem Wort betroffen bin. Wenn ich mich gegen Gottes Wort nicht sperre und wehre, sondern mich ihm öffne, hinhöre und die Konsequenzen für mein Leben ziehe.

Möge Gottes Wort reichlich unter uns wohnen, heute, morgen und alle Tage bis in Ewigkeit. Amen

Ihr Pfarrer Rainer Janus