Wort zum Sonntag Reminiscere
Jesus in Gethsemane:
Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern: Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete.
Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen. Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wachet mit mir!
Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst! Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.
Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist's nicht möglich, dass dieser Kelch vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!
Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voller Schlaf. Und er ließ sie und ging wieder hin und betete zum dritten Mal und redete abermals dieselben Worte. Dann kam er zu den Jüngern und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird. Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät. (Mt 26,36–46)
1914, zu Beginn des 1. Weltkriegs, hat ein amerikanischer Politiker namens Hiram Warren Johnson das Wort geprägt: Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Kriege werden mit Lügen geführt. Die gezielte Desinformation ist eine Waffe. Stets wird der Gegner als der Böse dargestellt, während man selbst in reiner Notwehr handelt.
Mehr als ein Jahrhundert später stehen wir vielleicht am Beginn eines 3. Weltkrieges. Viele Menschen in Deutschland und ganz Europa hoffen, dass es gelingen möge, den Konflikt zu begrenzen und die Waffengewalt zu beenden. Es geht eine Welle der Hilfsbereitschaft durch ganz Europa. Aber in der Ukraine nimmt das Morden kein Ende – Tag für Tag, Nacht für Nacht.
Ukrainer sagen: Waffen helfen. Sanktionen helfen. Militärische Unterstützung hilft. Die Bibel sagt: Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt!
Es soll Menschen geben, die glauben, dass der lang vorbereitete Überfall auf den souveränen Nachbarstaat von Seiten Russlands als Notwehr zu bezeichnen sei. Diese Menschen meinen, dass das Absurde wahr ist, das Gegenteil von dem, was augenscheinlich ist.
Wachen heißt, die eigenen Augen offen halten und sich nicht von Lügengebilden verführen lassen. Ich erinnere mich an Erzählungen meines Vaters, der in seiner vom Nationalsozialismus überschatteten Jugend Beziehungen nach London hatte und über den Radiosender BBC andere Informationen hörte, wie sie von der Propaganda des 3. Reiches verbreitet wurden. Die ganze schreckliche Wahrheit, das ganze Ausmaß unmenschlicher Bosheit kam dann aber nach dem Krieg erst nach und nach ans Tageslicht. Und auch da gibt es heute wieder Leugner, die historisch klar belegte Tatsachen einfach nicht anerkennen wollen.
Bleibt wachsam und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt!
Die Wahrheit ist sichtbar: Es sind Bomben, die Zerstörung anrichten. Es sind Raketen, die töten. Es sind Verwundete, die verbluten. Es sind Massengräber voller Leichen. Es sind Kinder, die für ihr Leben gezeichnet und traumatisiert sind. Es sind die Erfahrungen von Trauer, Schmerz, Empörung, Verzweiflung und Angst. Das ist die Wahrheit des Krieges, die Wut und das Gefühl der Ohnmacht nährt und den Gedanken an den Weg der Versöhnung in unendliche Ferne rückt.
Vielleicht wäre Jesus mit seinen Jüngern heute nicht im Garten Gethsemane zu finden, sondern bei den Menschen in den U-Bahn-Schächten von Kiew.
Der Garten Gethsemane hat seinen Namen von den Olivenbäumen, die noch heute dort wachsen und zu sehen sind. Übersetzt heißt gat shemanim Ölkelter, also den Ort, an dem durch Mahlen und Pressen der Oliven Öl gewonnen wurde. Und dieses Olivenöl wurde nicht nur in der Küche verwendet, sondern auch um Öllichter zu befüllen und Licht zu haben. Und wenn Jesus von sich selbst sagt: „Ich bin das Licht der Welt!“, dann klingt das mit, dass die Ölfrucht zuerst zerquetscht wird, bevor sie Licht in die Nacht bringen kann.
Jesu Leiden und Sterben hat etwas zu tun mit dem Leiden und Sterben der Menschen – und mit dem Leiden und Sterben aller Kreatur. Der Gott und Schöpfer zeigt uns, wie sehr er leidet an der Bosheit der Bösen, an der Lieblosigkeit der Lieblosen, an Waffengewalt, an Lüge und Betrug.
Der Evangelist Johannes spricht vom Kreuzestod als Erhöhung. Der Evangelist Matthäus dagegen nimmt uns hinein in die Menschlichkeit Jesu, in seine Lebens- und Sterbensangst. Dass dieser bittere Kelch des Schmerzes und des Todes an ihm vorübergehe, spricht, ruft, schreit er im Gebet in den dunklen Nachthimmel. Und wir hören kein erlösendes Wort. Der Himmel bleibt stumm.
Dieser Kelch kann nicht vorübergehen, weil die Welt so ist, wie sie ist, weil es die Lust am Bösen gibt und der böse Gedanke immer auch in die Tat umgesetzt wird. Das ist der Riss, der die Schöpfung durchschneidet. Des Menschen Herz ist Böse von Jugend auf. Und das Böse kann nur mit Gutem überwunden werden, stärker als Krieg und Gewalt ist nur die Ohnmacht der Liebe.
Dreimal schreit Jesus sein Gebet gen Himmel und seine Freunde, seine Jünger schlafen. Sie bleiben unbeteiligt und das, obwohl er doch für sie den Weg des Leidens geht. Das ist das Zeichen seiner Liebe, dass er sein Leben lässt für seine Freunde, für uns alle. Er stirbt den qualvollen Kreuzestod, damit jenseits von aller Bosheit Versöhnung möglich wird, ein Vergeben und Vergessen, das Frieden möglich macht.
Alle Waffen töten. Und das ist der Grund, warum Waffen zu Pflugscharen umgeschmiedet werden sollen. Pflugscharen dienen dem Lebensunterhalt nicht dem Tod. In dieser unerlösten Welt sollen Waffen und Soldaten dem Bösen eine Grenze setzen, das Schlimmste verhindern. Sie sollen dem Frieden dienen. Wahren Frieden aber gibt es am Ende nur im Geist der Liebe, die den anderen als Geschöpf gleichberechtigt anerkennt, seine Würde akzeptiert und seinen Anspruch in Freit und Selbstbestimmung zu leben.
Die Jünger schlafen. Sie nehmen die Zeichen der Zeit nicht wahr. Sie leben in der Welt ihrer Träume. Es fehlt ihnen die Liebe, die sie wach hält und begeistert. Es fehlt ihnen die Liebe, die geduldig begleitet, die den anderen auch im Abschied nicht allein lässt, die im Sterbebett noch die die kalte Hand hält. Wachet und betet, haltet Stand, verratet eure Werte nicht, damit das Böse euch nicht überwältigt.
Beten heißt mit Gott im Gespräch bleiben. Beten heißt auch, Gott an seine Gerechtigkeit erinnern und an seine Barmherzigkeit. Beten kann heißen, Gott sein Leid zu klagen. Beten kann heißen von Gott das nach menschlichem Ermessen Unmögliche zu erbitten. Aber vor allem bewahrt uns das Gespräch mit Gott davor, schläfrig und gleichgültig zu werden. Das Hören auf Gottes Wort und die Antwort im Gebet ist die Nahrung für die Liebe, die in unseren Herzen wohnt und wirkt.
Ob die Wahrheit wirklich das erste Opfer des Krieges ist, oder aber nur eines von vielen, das sei dahingestellt. Ein Leben in Würde und Frieden wird es in einer gottlosen Welt nicht geben. In den zehn Geboten steht das Wahrheitsgebot in einer Reihe mit dem Verbot, Leben zu vernichten oder zu begehren, was andern gehört. Aus sich selbst heraus, wird der Mensch nicht zum Frieden finden. Auch und gerade darum darf der Glaube nicht verloren gehen, das Hören auf Gottes Wort und eben das Gebet. Denken wir daran, dass diese Welt bald schon einer nächsten Generation als Lebensraum dienen soll.
Jetzt hilft nur noch Beten, hat mir jemand am 24. Februar gesagt. Und ich denke, das ist so: Beten hilft, denn das Beten rüttelt wach, es öffnet die Augen und es öffnet auch die Hände, um die Not wo möglich zu lindern. Jesus in seiner Angst um sein eigenes Leben und um unser aller Leben hat sein Vermächtnis in diesen Worten zusammengefasst. Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Amen.
Ihr Pfarrer Rainer Janus