Wort zum Sonntag – Erntedank

Der Evangelist Markus berichtet uns, wie 4000 Menschen wie durch ein Wunder satt geworden sind:

Zu der Zeit, als wieder eine große Menge da war und sie nichts zu essen hatten, rief Jesus die Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Mich jammert das Volk, denn sie harren nun schon drei Tage bei mir aus und haben nichts zu essen.

Und wenn ich sie hungrig heimgehen ließe, würden sie auf dem Wege verschmachten; denn einige sind von ferne gekommen.

 

Seine Jünger antworteten ihm: Woher nehmen wir Brot hier in der Einöde, dass wir sie sättigen? Und er fragte sie: Wie viele Brote habt ihr? Sie sprachen: Sieben. Und er gebot dem Volk, sich auf die Erde zu lagern.

Und er nahm die sieben Brote, dankte, brach sie und gab sie seinen Jüngern, dass sie sie austeilten, und sie teilten sie unter das Volk aus. Sie hatten auch einige Fische; und er sprach den Segen darüber und ließ auch diese austeilen. Und sie aßen und wurden satt. Und sie sammelten die übrigen Brocken auf, sieben Körbe voll. Es waren aber etwa viertausend; und er ließ sie gehen. (Markus 8, 1-9)

Bilder von leeren Regalen im Supermarkt prägten im Frühjahr den Anfang der Coronapandemie. Das Toilettenpapier war zeitweise ausverkauft im besten Deutschland, das wir haben. Schnäppchenjäger waren auf der Suche nach Mehl, Hefe und Spaghetti. Die Abgabe erfolgte zeitweise nur in haushaltsüblichen Mengen, um Hamsterkäufen vorzubeugen.

Aber auf der anderen Seite haben wir auch eine nie dagewesene Welle der Solidarität erlebt. Junge haben für Ältere den Einkauf übernommen. Masken wurden genäht und zur Verfügung gestellt. Auf den Balkonen wurde gesungen und musiziert. Die digitale Kommunikation erlebte einen Höhenflug – auch in den Kirchen mit online Angeboten und Telefonandachten. Alltagshelden bekamen Applaus.

Die Pandemie hat beides ans Licht gebracht. Die Gier und die Selbstsucht beim Kampf um Lebensmittel und das tägliche Brot in einem der reichsten Länder der Welt - und das Mitgefühl und die tätige Nächstenliebe, die an der Not nicht vorbeigeht, sondern sich um Mitmenschen sorgt und mithilft, das Notwendige zu tun.

Vielleicht haben Menschen, die in ländlicher Umgebung leben, die Einschränkungen durch den sogenannten Lockdown gar nicht so schlimm in Erinnerung. Aber auch hier im ländlichen Raum gibt es Gewinner und Verlierer, also Menschen, deren finanzielle Lebensgrundlage durch die Pandemie in Frage gestellt ist. Und es gibt Menschen, die nach überstandener Erkrankung immer noch an den Folgen leiden und auch hier in Friesenheim die Familien, die durch die Viruserkrankung einen lieben Menschen verloren haben.

Das Virus hat Fragen aufgeworfen, von denen viele noch nicht beantwortet sind. Und an erster Stelle steht die Frage nach der Zukunft und danach, wie wir in Zukunft leben wollen? Manche suchen mit aller Kraft die Rückkehr in die alte Normalität. Andere sagen: Wir brauchen eine neue Normalität, in der das Mitgefühl wichtiger wird, die Liebe zu den Mitmenschen und Mitgeschöpfen, eine neue Zeit, in der die Freiheit und das Wohlergehen aller wertvoller ist, als die egoistischen Interessen einzelner. Wir brauchen eine Wirtschaft und eine Gesellschaft, die unseren Lebensraum nicht immer mehr ausbeutet und zerstört, sondern nachhaltig bewahrt für kommende Generationen.

Was mich bei der Geschichte von der Speisung der Viertausend am meisten anspricht, ist das Mitgefühl, das Jesus zeigt. Er sagt: Mich jammert das Volk. Die Not der Menschen geht Jesus nahe. Er sieht ihren Hunger, er sieht ihre Sorgen und ihre Ängste.

Wenn die Menschen angesichts von Katastrophen, Not und Elend fragen: „Wie kann Gott das zulassen?“, dann ist mir dieser Jesus wichtig, der sagt, gerade die Menschen sind mir wertvoll. Ich komme zu denen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen. Alle miteinander sind sie Gottes geliebte Kindern. Von ihm haben alle die gleiche unveräußerliche Würde, blutjung und steinalt, Mann und Frau. Ich bin für die da, die Hunger haben und Sehnsucht nach einem Leben, wie es sein soll und wie es gut ist. Und ich will durch meine Liebe in ihren Herzen ihren Lebensdurst und Lebenshunger stillen.

Aber Jesus zelebriert dafür keine Wunder. Er spielt nicht den Zauberer, der aus sieben Broten plötzlich siebzig oder siebenhundert macht. Der Schlüssel zur wundersamen Brotvermehrung liegt in der Frage: Wie viele Brote habt ihr?

Jesus fragt nicht nur die Jünger damals. Er fragt auch uns. Wie viele Brote habt ihr? Wie viel könnt ihr dazu beitragen, dass das Leben gelingt? Wie ist es mit eurem guten Willen bestellt? Seid auch ihr bereit, um der Not eines Mitmenschen auf ein Stück vom Kuchen zu verzichten? Wie viel Wohlstand habt ihr und wie viel Mitgefühl?

Und Jesus nahm die sieben Brote, dankte, brach sie und gab sie seinen Jüngern, dass sie sie austeilten, und sie teilten sie unter das Volk aus.

Am Anfang steht das Mitgefühl Jesu. Jetzt nimmt er in einem zweiten Schritt die Seinen in die Verantwortung und ermutigt zu einem achtsamen Blick auf die eigenen Ressourcen. Da ist ja noch ein Stück Brot. Ich lege es zu den anderen dazu. Da habe ich auch noch einen getrockneten Fisch. Und mein Wasservorrat reicht auch für den kleinen Jungen dort drüben. Nach und nach öffnen sich Herzen und Beutel - und alle werden satt und entdecken dabei, dass sie nicht ärmer geworden sind, sondern auf wunderbare Weise reicher.

Und so ist das Wunder der Brotvermehrung ein Wunder, das im Herzen der Menschen geschieht - und was auch heute in den Herzen der Menschen geschehen muss, wenn wir den Weg zu einer neuen, menschenfreundlicheren Welt gehen wollen.

Am Ende unserer Geschichte bleiben noch sieben Körbe voller Lebensmittel übrig. Wie in vielen biblischen Geschichten hat die Zahl 7 eine besondere Bedeutung. Die Zahl sieben ergibt sich aus den Zahlen drei und vier und bildet damit die Vollzahl, die alles umfasst. Drei ist die Zahl Gottes und der göttlichen Dreifaltigkeit. Die Vier steht für die Welt mit den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde und den vier Himmelsrichtungen Nord und Süd, Ost und West. Beide zusammen bilden das Ganze oder auch das Universum, die Gesamtheit. Gottes Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.

Und die Botschaft ist klar: Wer alles teilt, der wird am Ende auch alles erhalten. Wer sein Leben ganz in den Dienst der Liebe Gottes stellt, wer ihm treu bleibt, der wird die Krone eines erfüllten Lebens empfangen.

Bleibt die Frage: Ist die Hoffnung auf eine neue Normalität nur ein schöner Traum, eine Utopie, die keinen Platz hat in den Sachzwängen dieser Welt, in der Realität der wirtschaftlichen Zwänge und politischen Notwendigkeiten? Oder ist es doch eine realisierbare Vision einer neuen Art vom Leben? Hat dieses Leben nicht doch eine Perspektive auf das Reich Gottes in seinem Frieden und in seiner Gerechtigkeit?

Martin Luther King sprach von dem Traum und der Sehnsucht, dass Menschen aller Rassen und Nationen gleichberechtig miteinander leben. Albert Schweitzer sprach von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ als Grundlage aller Ethik. Wir kennen den Weg, was hindert uns, den Weg der Liebe zu gehen und so Jesus Christus nachzufolgen?

Was hindert uns? Die Kraft biblischer Erzählungen liegt ja nicht nur darin, dass sie uns ermutigen, Herz und Hand zu öffnen. Es wird uns darin eben auch jene Frage zugemutet, die seit dem Ausbrechen der Corona-Pandemie immer wieder aufgetaucht ist: Wann ist es eigentlich genug? Wie viel brauche ich zum Leben? Wie viel vermeintliche Freiheit auf Kosten anderer? Wie viel Mobilität auf Kosten des Klimas? Was ist wirklich wichtig für mich?

Ich denke: In den ersten Monaten dieses Jahres haben wir so viel liebevolles, menschliches Miteinander erlebt und eingeübt: Die kleinen Gesten, meist ganz ohne materiellen Wert, haben sich vervielfältigt und sind manchmal buchstäblich „körbeweise" zu uns zurückgekommen.

Was als Aufgabe bleibt, ist der achtsame Umgang und eine gewisse Sorgfalt mit dem so reich Zurückgeschenkten, wie es auch unser Bibelwort nahelegt. Wir dürfen die Gaben der Liebe neu austeilen an die, die unsere Liebe brauchen. Dass nichts davon in Vergessenheit gerate. Dass wir sorgsam mit dem umgehen, was uns anvertraut ist. Und dass wir es nicht zuerst wieder verwalten, auspreisen, institutionalisieren, organisieren und systematisieren. Sondern ganz einfach staunen, was die Liebe möglich macht, wenn sie unsere Herzen erfüllt, und den Weg in unsere Zukunft im Geiste seiner Liebe gehen. Amen

Pfarrer Rainer Janus

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