Wort zum Sonntag – 29. August 2021

Du sollst nicht töten! Fragt man nach den zehn Geboten, wird das fünfte Gebot gerne zuerst genannt und gerne auch als das wichtigste bezeichnet.

Wer tötet, vernichtet Leben und raubt ihm die Zukunft. Der Tod ist endgültig und kann nicht wieder gut gemacht werden.

Aber schon auf den allerersten Seiten der Bibel ist von Mord und Totschlag die Rede: Kain erschlägt Abel. Ein gemeiner Mord aus Neid und Missgunst.

Im ersten Buch Mose lesen wir:

Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mithilfe des HERRN. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.

Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.

Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist's nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.

Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.

Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.

Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet.

Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.

Wie kommt das Böse in die Welt? Wie kann es sein, dass der Mensch sich sogar am Leben selbst vergreift und mordet? Auf diese Frage will die Geschichte von Kain und Abel uns eine Antwort geben. Und es wird schnell deutlich, es sind Neid und Missgunst, die zu grimmigen Gedanken und zur bösen Tat führen.

Was Gott im Guten geschaffen hat, wird durch menschliches Handeln ins Gegenteil verkehrt. Schon Adam und Eva hören nicht auf Gottes Wort. Sie lassen sich verführen und katapultieren sich selbst aus dem Paradies hinein ins wirkliche Leben mit Mühe und Arbeit, Krankheit und Schmerzen, Neid und Tod.

Im Zusammenhang mit den Flutkatastrophen dieses Sommers kamen in den Medienberichten immer wieder Bürgerinnen und Bürger zu Wort, die ihre ganze Fassungslosigkeit zum Ausdruck gebracht haben über die Gewalt der Katastrophe und ihre gewaltigen Folgen. Auch Gott ist fassungslos. Kain: Was hast du getan? Der Mensch vernichtet das Geschenk des Lebens. Er löscht die Zukunft aus.

Aus biblischer Sicht ist die Gottesferne des Menschen die größte Katastrophe, die über diese Welt und ihre Geschöpfe hereingebrochen ist. Wieviel Leid könnte vermieden werden, wenn Menschen sich an Gottes Wort und Gebot orientieren? Wie freundlich könnte eine Welt aussehen, in der es nicht um den eigenen Vorteil, sondern um das Wohl aller und ein schöpfungsgemäßes Leben geht? Kaum ist das Leben geschaffen, kaum werden Menschen geboren, schon beginnt das Hauen und Stechen. Kain und Abel verkörpern zwei konkurrierende menschliche Existenzformen der Frühzeit. Ackerbauern waren sesshaft und beanspruchten fruchtbare Landstriche. Hirten waren Nomaden, die in weniger fruchtbaren Gebieten umherwanderten. Konflikte waren vorprogrammiert und es waren oft die Nomaden, die mit Gewalt ins fruchtbare Ackerland vordrangen.

Interessant, dass es bei Kain und Abel aber gar nicht um den Kampf ums Überleben, um die Verteilung von Wasser oder Nahrungsmitteln geht. Es geht bei den ungleichen Brüdern um das Ansehen vor Gott. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.

Schon die Vielfalt des Lebens kann als Ungerechtigkeit empfunden werden. Warum nehme ich gleich zwei Kilo zu, wenn ich nur an einem kalten Buffet vorbeilaufe und andere können essen, so viel sie wollen und bleiben schlank und rank? Warum werden die einen auf der Sonnenseite des Planeten geboren, die anderen müssen sich mit der Schattenseite zufrieden geben? Warum ist ein anderer Mensch attraktiver, erfolgreicher, gesünder? Warum werden andere mehr geliebt von den Menschen und von Gott?

Ich glaube nicht, dass Gott einen Menschen mehr liebt als den anderen. Gott hat alles Leben gleichermaßen geschaffen. Und vor Gott sind wir alle gleich. Er lässt die Sonne aufgehen über Gerechte und Ungerechte. Seine Gnade grenzt niemanden aus und seine Liebe hört niemals auf. Und dennoch kann der Neid das Herz eines Menschen in Besitz nehmen. Eingebildete Eifersucht ist die Ursache dafür, dass Kain ergrimmt und seinen Blick finster senkt. Neid bestimmt sein Denken und Fühlen. Er kann den Bruder nicht mehr länger mit den Augen der Liebe sehen.

Kain, wo ist dein Bruder Abel? Soll ich meines Bruders Hüter sein? Frage und Gegenfrage durchziehen die Menschheitsgeschichte von den Uranfängen bis zur Gegenwart.

Ein Schäfer kann seine Herde behüten. Er sollte auch in der Lage sein, sich selbst zu schützen. Warum sollte also ausgerechnet ich meines Bruders Hüter sein? Schließlich ist ein jeder seines Glückes Schmied. Und da, wo es Gewinner gibt, da wird es auch Verlierer geben. Das ist nun mal der Lauf der Welt.

Solchen Stammtischargumenten widerspricht die Bibel schon auf den allerersten Seiten. Genau das ist nicht der gewollte Lauf der Welt, die Gott in Liebe geschaffen und zum Guten bestimmt hat. Wir sind alle Schwestern und Brüder. Alles was lebt hat seine unveräußerliche Würde. Albert Schweitzer hat uns die Ehrfurcht vor allem Leben gelehrt.

Soll ich meines Bruders Hüter sein? Mit dieser Gegenfrage möchte Kain Verantwortung von sich abwälzen. Und er steht mit dieser Haltung nicht allein. Vielleicht ist das ein Grund, warum manchen Menschen der Glaube lästig wird. Sie wollen nicht auf ihre Verantwortung angesprochen werden. Sie wollen machen, was machbar ist, das Leben nach ihren eigenen Maßstäben gestalten, auch wenn das auf Kosten anderer geschieht.

Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.

Es gibt nur eine Kraft, die stark genug ist, dieses böse Verlangen zu überwinden – und uns die Kraft gibt, den Blick frei zu erheben. Es ist die Kraft der Liebe, die uns eine klare Antwort gibt: Ja, du sollst deines Bruders Hüter sein. Oder, wie es Jesus formuliert hat: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu. So lautet die Kurzfassung der Goldenen Regel, die gemäß der Vernunft allen Geschöpfen gleichermaßen das Leben ermöglichen soll. Gottes Wille geht einen Schritt weiter. Wie oft heißt es in den zehn Geboten: Du sollst nicht begehren! Gott will im Geist der Liebe dieses Begehren als Motor des Bösen überwinden. Und Freiheit erlangt der Mensch nur, wenn er auch frei wird von Habgier und Neid, wenn er zur Dankbarkeit findet.

Wie geht nun Gott mit dem Mörder um? Das Gesetz der Gerechtigkeit lautet: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wer mordet, der hat sein eigenes Recht auf Leben verwirkt. Der gerechte Gott aber lässt Gnade vor Recht ergehen. Der Mörder und Sünder steht unter Gottes persönlichem Schutz. Gott ermöglicht einen neuen Anfang und eine neue Lebenschance.

Wir wissen nicht, wie das Kainszeichen ausgesehen haben mag. Aber vielleicht tragen wir dieses Liebeszeichen Gottes alle unsichtbar an uns. Gott liebt nicht die Sünde, wohl aber den Sünder. Und vielleicht ist diese Liebe des Schöpfers auch die letzte Begründung für die unveräußerliche und unverlierbare Würde allen Lebens.

Gott leidet an der Bosheit derer, die das Leben verachten, mit Füßen treten und über Leichen gehen. Er leidet, wenn menschenverachtende und lebensfeindliche Parolen verkündet werden. Er leidet, wenn anstelle der Liebe die Gleichgültigkeit tritt. Und Gott hat uns sein Leiden gezeigt in der Gestalt des guten Hirten, der am Kreuz für uns gestorben ist, damit Versöhnung neue Hoffnung weckt.

Wo wir versagen, wo der Mensch zur Bestie wird, da soll Gottes neue Wirklichkeit sich durchsetzen. Im Geiste seiner Liebe soll Gerechtigkeit wachsen und Frieden aufblühen in Ewigkeit. Amen.

Ihr Pfarrer Rainer Janus