Wort zum Sonntag – 22. August 2021

Der Evangelist Markus berichtet von der Heilung eines gehörlosen und sprachlosen Menschen:

Und als Jesus wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte.

Und sie brachten zu ihm einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, dass er ihm die Hand auflege.

Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und spuckte aus und berührte seine Zunge und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig.

Und er gebot ihnen, sie sollten's niemandem sagen. Je mehr er's ihnen aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden.

Jesus befreit Menschen von ihrer Krankheit. Er heilt Leib und Seele. Aber die Heilung eines Gehörlosen, die der Evangelist Markus uns überliefert, trägt schon etwas seltsame Züge.

„Jesus sah auf zum Himmel und seufzte.“ Zuvor hätte er die Heilung einer griechischen Frau bzw. ihrer Tochter lieber abgelehnt. Jetzt kommen schon wieder Leute auf ihn zu und bringen ihm einen Gehörlosen. Es fällt Jesus offenbar schwer, diesem Menschen zu helfen. Und er will es nicht vor aller Augen tun, was ihm aber nicht gelingt. Dann gebietet er den Leuten, nicht darüber zu reden, was sie aber doch tun.

Um das Verhalten Jesu besser zu verstehen, sind die Ortsangaben wichtig. Denn Jesus war mit seinen Jünger weit jenseits der Grenzen des heiligen Landes unterwegs. Tyrus und Sidon waren heidnische Stadtstaaten im Norden, die zur römischen Provinz Syria gehörten. Das Gebiet der Zehn Städte war ebenfalls Heidenland und grenzte im Südosten an das Galiläische Meer, den See Genezareth.

Warum Jesus mit seinen Jüngern im Ausland unterwegs war, wissen wir nicht. Es gibt die Vermutung, dass es einen Zusammenhang gab mit der Verhaftung und Ermordung von Johannes dem Täufer durch Herodes Antipas. Es war schließlich bekannt, dass es eine große Nähe gab zwischen dem Rabbi aus Nazareth und den Täufer am Jordan. Dann hätte sich Jesus sozusagen in Sicherheit gebracht vor dem Zugriff seines gewalttätigen Landesherrn. Das würde erklären, warum er so viel wert darauf legte, inkognito zu bleiben und keine öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen.

Aber es gibt auch eine andere Vermutung: Die Reise ins Heidenland könnte als Hinweis zu verstehen sein, dass das Evangelium nicht allein für Gottes auserwähltes Volk, sondern am Ende für alle Völker bestimmt ist. Auch Menschen jenseits der Grenzen sollen von der Liebe Gottes erfahren. Vielleicht haben beide Vermutungen ein wenig recht und vielleicht gehört alles zu Gottes großem Heilsplan.

Gegenüber der griechischen Frau aus Syrophönizien hat Jesus noch einmal deutlich gemacht, dass er zuerst zu den Menschen in Israel gesandt ist. Wenn auch erst in zweiter Linie gilt seine Zuwendung aber nicht allein dem Gottesvolk, sondern auch den Heidenvölkern. Auf Drängen dieser Syrophönizierin heilt Jesus ihre Tochter am Ende doch, wohl auch deshalb, weil er das große Vertrauen und den beharrlichen Glauben dieser Frau sieht.

Auch der Nicht-Hörende im Gebiet der Zehn Städte ist ein Heide. Aber im Unterschied zu dieser Syrophönizierin kann er seinen Glauben nicht in die Waagschale werfen.

„Der Glaube kommt aus dem Hören.“ Diese Feststellung trifft der Apostel Paulus in seinem Brief an die Römer. Luther übersetzt: „Der Glaube kommt aus der Predigt.“ Denn es geht natürlich um das Hören auf das Wort Gottes. Den Umkehrschluss zog der Kirchenvater Augustinus. „Wer nicht hören kann, der kann auch nicht glauben.“ Er hat diese Meinung erst viel später revidiert, als er erlebt hat, dass Nicht-Hörende durch Gebärdensprache doch kommunikationsfähig sind.

Nach dem Verständnis der Antike war also der Nicht-Hörende nicht nur ein Heide, sondern ein Mensch, der gar nicht glauben konnte. In der Kirche wurden solche Menschen bis ins fünfte Jahrhundert ausgegrenzt und nicht getauft.

Unser Gehörloser kommt auch nicht aus eigenem Antrieb zu Jesus, sondern er wird gebracht. Und die Leute, die ihn bringen, haben vielleicht insgeheim die Hoffnung auf Heilung, aber der Wunsch, den sie äußern, ist lediglich eine Handauflegung, eine Segensgeste.

In dieser Situation stellt sich die Frage: Wo hat die Liebe Gottes ihre Grenze? Kann Heil und Heilung möglich werden, wenn sozusagen alle Voraussetzungen dafür fehlen?

Sprich nur ein Wort und so wird meine Seele gesund. Jesus seufzt und er spricht das erlösende Wort: Hefata!: Öffne dich! Jesus zeigt uns mit dieser Heilung, was es heißt, dass Gottes Liebe keine Grenzen kennt.

Die Erklärung hat später der Apostel Paulus gegeben, wenn er schreibt: Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf.

Aber, was nun im Heidenland geschieht, ist äußerst interessant, denn die Leute, die diese Heilung miterlebt haben, greifen in ihrem Jubel auf die großen Verheißungen Israels zurück. Im Evangelium heißt es: Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden.

Alles wohl gemacht, das hat Gott allein, als er Himmel und Erde geschaffen hat und es von seinen Schöpfungswerken heißt: Und siehe, es war sehr gut. Was den Kindern Israels, selbst den frommen Pharisäern und Schriftgelehrten; verborgen bleibt, das rufen ausgerechnet im Heidenland die Spatzen von den Dächern: Jesus ist der Messias, der von Gott gesandte Retter der ganzen Welt. Mit ihm bricht Gottes neue Schöpfung an.

Und es war kein geringerer als der Prophet Jesaja, der die Universalität des Heils in seiner Friedensvision von der großen Wallfahrt der Heidenvölker zum Zion vorausgesehen und angekündigt hat: Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Was dem Nicht-Hörenden im Heidenland widerfährt, gehört also zu den untrüglichen Kennzeichen von Gottes Heilswillen für das Volk Israel und alle Völker.

Die Leser des Markusevangeliums wissen es von Anfang an. Aber die Menschen seiner Zeit erkennen es erst nach und nach. Petrus spricht es im kleinen Kreis der Jünger aus: Du bist der Messias. Und erst am Ende, unter dem Kreuz, bekennt vor aller Welt ausgerechnet der heidnische Hauptmann: Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!

Die Liebe Gottes kennt nicht nur keine Grenzen, sie ist auch an keinerlei Voraussetzungen gebunden. Wo jetzt in Afghanistan die Taliban die Macht ergreifen, kann Gottes Liebe hier und dort am Werke sein. Wo Feuersturm und Wassermassen wüten, sind wir dennoch nicht allein. Wir werden die großen Probleme nicht allein aus eigenen Kräften lösen, aber wir dürfen auf Gottes Hilfe hoffen, auf ein Ende von Krankheit und Hunger, auf Gerechtigkeit und Frieden.

Ja, vielleicht seufzt Gott manches Mal über seine Menschenkinder. Vielleicht fällt auch ihm die Versöhnung manchmal schwer. Aber Gott bleibt sich in seiner Liebe treu und seine Liebe heilt auch alte Wunden und alle unsere Gebrechen in Zeit und Ewigkeit. Amen.

 

Ihr Pfarrer Rainer Janus