Wort zum Sonntag – 20. Juni 2021
Der Evangelist Lukas erzählt: Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet?
Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut. (Lukas 10)
Ich vermute, sie werden geschmunzelt oder gar lauthals gelacht haben, die Zöllner und Sündern unter den Zuhörern Jesu. Die Vorstellung von einem Hirten, der 99 Schafe im Stich lässt, nur um ein einziges zu suchen, das klang schon ziemlich grotesk. Aber es wird wohl ein bitteres Lachen gewesen sein, denn Zöllner und Sünder damals werden mehr als einen Hirten gekannt haben, der mit 99% zufrieden war. Ihre Lebenserfahrung war eine ganz andere: Wer verlorengegangen war, der war eben verloren. Ihre Lebenswirklichkeit sah anders aus: Hirten zu allen Zeiten lebten und handelten nach dem Motto: Was weg ist, ist weg. Ein gewisser Verlust muss im Leben eben hingenommen werden. Was verloren geht, wird halt abgeschrieben.
Und wer als Frau damals 10 Silbergroschen, Denare, sein Eigentum nennen konnte, war nicht gerade arm. Einen Denar zu verlieren, war sicher nicht großartig. Wenn man ihn wiedergefunden hat, wird man sich gefreut haben. Aber mit den Freundinnen ein Fest zu veranstalten, um eines Silbergroschen willen, das wäre maßlos übertrieben.
Die Zöllner und Sünder wussten, dass von ihnen selbst die Rede war. Sie selbst wurden als „die verlorenen Schafe des Hauses Israel“ bezeichnet. Sie galten als verlorengegangen und wurden abgeschrieben. Aber niemand hatte sich dieses Schicksal freiwillig ausgewählt. Viele von ihnen waren an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden. Mancher Zöller hätte sich Besseres vorstellen können, als für die Römer Steuern einzutreiben. Manche Prostituierte hätte sich Besseres vorstellen können, als ihren Körper zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.
Zusätzlich zu ihrer prekären Lebenssituation kam dann auch noch die religiöse Diskriminierung durch die Pharisäer und Schriftgelehrten. Pharisäer und Schriftgelehrte galten als die Hundertprozentigen. Sie hielten sich akribisch an die religiösen Gebote und gaben vor, ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen. Im Unterschied zu Zöllnern und Sündern können sie sich das ökonomisch gut leisten. Sie kennen die Not nicht, die ihre Mitmenschen ins Abseits getrieben hat.
Aber Jesus entlarvt ihre Scheinheiligkeit und Selbstgerechtigkeit. Pharisäer und Schriftgelehrte - das sind die Hirten, die ihre in Not geratenen Mitmenschen als „verlorene Schafe“ abgeschrieben haben. Ein Gott wohlgefälliges Leben sieht anders aus und kann nicht lieblos sein.
Beiden, den scheinheiligen Pharisäern und den verlorengeglaubten Zöllnern, erzählt Jesus von dem Gott, der die Liebe ist. Und während die Scheinheiligen murrten, begannen die Verlorengeglaubten neue Hoffnung zu schöpfen.
Ich empfinde die Reaktion von Politik und Gesellschaft auf Kirche und christlichen Glauben heutzutage oft gleichermaßen wohlwollend und verharmlosend nach dem Motto: Wer so etwas wie Glauben braucht, der soll ihn halt leben und damit zufrieden sein. Aber der Glaube findet sich immer wieder im kritischen Gegenüber zu Politik und Gesellschaft. Insbesondere die Religion der Liebe hat ein kritisches Potential und kann sich mit Halbheiten und Halbwahrheiten nicht zufrieden geben. So, wie Gottes Liebe niemals aufhört, so soll auch unsere Liebe keine Grenzen können, wenn es um das Wohl unserer Mitgeschöpfe geht.
Da, wo wir Menschen resignieren und sagen: „Wir müssen mit 99 zufrieden sein!“, da macht dieser Gott der Liebe sich auf und macht sich auf die Suche, weil er der gute Hirte, der Schöpfer und Erhalter allen Lebens, ist. Und weil die Liebe zu allen seinen Geschöpfen sein Herz ganz erfüllt. 99% sind nicht genug: Er will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Er gibt niemanden so leicht verloren. Er schreibt niemanden ab. Er lässt niemand fallen. Unermüdlich sucht er die auf, die seine Liebe brauchen.
Und genau das hat man nun Jesus zum Vorwurf gemacht. Dass er hingegangen ist zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel und die Menschen aufgesucht hat, die zu seiner Zeit zu Außenseitern geworden waren.
Aber Gott sieht eben auch im Zöllner einen Menschen, den er in Liebe geschaffen hat. Und wer seinen Körper verkaufen muss, behält die eigene unverlierbare Würde. Asylant und Fabrikant sind gleichermaßen von Gott geliebt und wertgeschätzt. Gott sieht einen jeden Menschen mit den Augen der Liebe an. Das mussten die Pharisäer damals und müssen die Pharisäer heute erst mühsam begreifen.
Deshalb ist Gott in Christus Mensch geworden, dass wir seine Liebe begreifen und erfahren können. Jesus ist als Mensch in diese Welt gekommen, dass er als Gleicher den Gleichen die Liebe Gottes nahe bringt – nicht von oben herab, nicht aus sicherer Entfernung. Nein, er macht sich auf den Weg, steigt aus dem Himmel hernieder und begibt sich in unsere Lebenswirklichkeit. Und mit seinem Erdenleben, mit seinen Geschichten und Gleichnissen gibt er uns einen Einblick direkt ins Herz Gottes.
Was die Welt im Innersten zusammenhält, ist nicht die Kraft der Atome. Was die Welt im Innersten zusammenhält, ist die Kraft der Liebe Gottes. Was die Wissenschaft mit ihren Methoden wohl nie entdecken und analysieren wird, hat Jesus Christus uns gezeigt.
Wir Menschen verlieren nicht nur Hausschlüssel oder Geldbeutel. Manchmal verlieren wir die Geduld oder die Fassung. Und es ist erfreulich, wenn wir sie wiederfinden. Aber manch einer hat seine Gesundheit verloren – und kann sie nicht wiederfinden. Manch einer hat eine Trennung erfahren – und muss leben mit der Tatsache, dass dieser Verlust bleibt und wohl nicht mehr geheilt werden kann. Manch einer hat am Grab Abschied genommen – und die Trauer will nicht enden.
Vielleicht ist das der Grund, warum Jesus nicht nur vom Glück des Wiederfindens auf Erden spricht, sondern auch von der Freude im Himmel über einen Sünder, der Buße tut. Gottes Heilswille reicht über die Vergänglichkeit unseres irdischen Daseins hinaus. Das Glück dieser Welt ist immer auch Vorfreude auf das, was Gottes Zukunft uns schenken will.
Pharisäer und Zöllner, Schriftgelehrte und Sünder, wir alle haben Grund zur Freude. Denn Jesus erinnert uns daran, dass Gott uns nicht abgeschrieben und vergessen hat. Er liebt uns, auch wenn wir ihm Kummer machen. Wir alle sind ihm wertvoll. Er hat jedem Leben seine unverlierbare Würde gegeben. Er sucht uns. Er will unser Herz mit seiner Liebe erfüllen, dass wir den Blick für das Ganze behalten, für die Gemeinschaft, in der wir stehen, für die Mitmenschen, die unsere Hilfe brauchen. Gott hat sich schon auf den Weg gemacht. Er will auch dich finden, dein Leib und Seele heilen, dein Leben mit Freude erfüllen, heute und alle Tage bis in Ewigkeit. Amen
Ihr Pfarrer Rainer Janus