Wort zum Sonntag – 19.09.2021

Das Bibelwort für den heutigen Sonntag steht in den Klageliedern Jeremias:

Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.

Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.

Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. Denn der HERR verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.

Klagelieder sind Teil unseres Lebens, aber sie landen nicht in den Charts der Musikindustrie und werden auch nicht gesungen, sondern sie werden immer wieder vorgetragen und gebetsmühlenartig wiederholt. Wir hören Klagelieder über die Coronaverordnungen und über die Impfmüdigkeit. Wir hören Klagelieder über die schlechte Bezahlung von Pflegekräften und Erziehern. Geklagt wird über den Bürokratismus und den Islamismus. Flutopfer warten auf Aufbauhilfen, Drittweltländer auf Impfstoffspenden. Und manchmal beschleicht mich das ungute Gefühl, dass manch einer auch gelernt hat, zu klagen, ohne zu leiden. Und währenddessen geht die Klage derer, die wirklich leiden, unter, wird nicht gehört und findet keine Beachtung. Nicht allen gelingt es, sich medienwirksam zu präsentieren und während manche Projekte auf eine erfreuliche Spendenbereitschaft stoßen, gehen andere leer aus.

Stellen wir uns vor, wir könnten den Verfasser unseres Bibelwortes einladen, und ihn bitten, uns die Predigt zu halten. Ich vermute, es würde uns allen die Sprache verschlagen. Er hätte kein liturgisches Gewand an, keinen Talar mit gestärkten Beffchen, sondern einen zerrissenen Rock aus grobem Sackleinen. Aber das Klagelied, das er uns vortragen würde, wäre nicht ohne Hoffnung.

Die Verse, die wir als Bibelwort zur Predigt gehört haben, sind Teil einer herzzerreißenden Klage. „Ich bin ein Mann, der Elend sehen muss ... Gott hat mir Fleisch und Haut alt gemacht ... Wenn ich schreie und rufe, so stopft er sich die Ohren zu vor meinem Gebet ... er hat meinen Weg vermauert.“ Das sind furchtbare Stoßseufzer eines Menschen, der Schreckliches erlebt hat. Er ist vorzeitig gealtert, seine Gebete gehen ins Leere, sein Leben ist in eine Sackgasse geraten. Erschütternd ist das Geständnis: „Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben; ich habe das Gute vergessen.“ Zu allem Elend kommt auch noch die Abkehr vom Glauben an das Gute, der Vertrauen erst möglich macht. Wer so klagt, wie wir es hier hören, der ist wirklich am Ende.

Was ist der Grund für diese Bitterkeit? Im Jahr 587 vor Christi Geburt erlebt das jüdische Volk eine nationale Katastrophe. Die Babylonier belagern und erobern Jerusalem. Viele Menschen werden verschleppt. Zurück bleiben die Armen und die Schwachen. Vielen Familien fehlt der Ernährer, Kinder sterben vor Hunger. Diese nationale Katastrophe wird überlagert von einer religiösen Katastrophe: Die Menschen fühlen sich von ihrem Gott verlassen. Die wenigen Zurückgebliebenen sehen das Heiligtum, den Tempel, geschändet und zerstört. Viele werden deportiert nach Babylon, ihrer Heimat beraubt, aus dem Land der Verheißung weggeführt in eine fremde Welt mit einer fremden Religion, die ihren eigenen Glauben und ihr Selbstverständnis massiv in Frage stellt.

Grund zur Klage hat er also, der Verfasser unseres Bibelwortes, wenn er nicht mehr als sein nacktes Leben retten konnte – ähnlich wie die Bootsflüchtlinge unserer Tage, die aus dem Wasser des Meeres gezogen werden. Aber er resigniert nicht. Im Gegenteil: Auch in der tiefsten Tiefe bewahrt er sich den Glauben und die Hoffnung, dass Gott lebt, dass er gegenwärtig ist und uns nicht vergisst. Er kann hinter allem Leid das Ja Gottes erspüren, das ihn trägt, ihm Kraft gibt für den nächsten Schritt, das stärker ist als selbst der Tod.

Wir leben heute in einer Zeit, in der die religiösen Institutionen, die dem Miteinanderleben Halt und Gestalt geben, in eine tiefe Vertrauenskrise geraten sind. Viele Menschen werfen ihre Religion wie einen Ballast ab, wollen ohne Kirche leben, vergessen ihren Glauben, verlernen das Beten. Und manchmal ist es geradezu spürbar, wie maßlos, wie trostlos ihre Trauer ist, wenn ein Abschied ansteht, wenn der Tod in ihr Leben tritt, wenn sie nichts mehr haben, was sie trösten könnte.

Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind. Wir brauchen etwas von dieser verzweifelten Hoffnung, die trotz allem am Glauben festhält, damit die Trauer uns nicht überwältigt, damit die Sorgen uns nicht erdrücken, damit die Angst uns nicht die Kehle zuschnürt. Dann kann plötzlich mitten in allen Klageliedern von der Güte des HERRN die Rede sein.

Gott ist nicht tot, auch wenn die Welt ihre eigenen Wege geht. Er ist nicht tot, weil ich oder andere ein hartes Schicksal erleben und durchstehen müssen. Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele. Gott lebt, weil er zu mir gehört und ich zu ihm, weil er mich zu seinem Bild geschaffen hat, zum Leben nach seinem Wort und Willen, weil er mich liebt und mein Leben bewahren will auch im Tod.

Dieser Glaube, diese Hoffnung und diese Liebe gehören zusammen und sie sind das, was mich trägt, auch dann, wenn alles andere nicht mehr tragen kann. Bedrückende Situationen gehören weiter zur Wirklichkeit unseres Daseins. Aber sie haben ihre zerstörerische Energie verloren, die Menschen kaputt machen kann. Und selbst dann, wenn unser Glaube klein wird, wenn unsere Hoffnung sinkt, bleibt die Liebe Gottes stark wie der Tod, stärker als alles, was uns von Gott trennen könnte.

Und plötzlich wird deutlich, unser Bibelwort ist im Grunde gar kein Klagelied. Da ist von der Güte Gottes und seiner Barmherzigkeit die Rede, nicht von Trauer und Verzweiflung. Gottes Gnade ist alle Morgen neu und seine Treue ist groß, größer als unsere Untreue. Er verstößt nicht ewig, er erbarmt sich, er ist und bleibt mein Teil. Auch wenn ich nicht mehr habe als das nackte Leben, jede Stunde und jede Minute verdanke ich ihm.

Er ist der gute Hirte allen Lebens. Und da, wo wir keinen Ausweg mehr sehen, da weiß er Wege, die in die Zukunft führen. Mit den Worten des 23. Psalms können wir sprechen: Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, Stecken und Stab trösten mich.

Jesus Christus hat dem Tode die Macht genommen“, heißt es im Wochenspruch. Jesus Christus hat den Tod nicht beseitigt. Sterben und Tod machen uns weiter zu schaffen, brechen Leben ab, machen einsam. Aber der Tod hat nicht das letzte Wort und Urteil über unser Leben zu sprechen. „Die Güte des Herrn ist's, dass wir nicht gar aus sind.

Gott ist nicht tot. Er kümmert sich um das Schicksal seiner Geschöpfe – auch wenn wir das mit unserem Verstand nicht wahrnehmen können.

Auch uns wird er die Tränen abwischen, uns trösten, wenn wir Trost brauchen, uns aufrichten, wenn wir unter den Lasten des Lebens leiden. Gott sei Dank dafür - in Zeit und Ewigkeit. Amen.

Ihr Pfarrer Rainer Janus