Wort zum Sonntag – 18. Oktober 2020
Im Brief an die Christen in der Stadt Ephesus heißt es:
Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.
Zieht den neuen Menschen an! Legt den alten Menschen ab! Ich frage: „Was ist das für eine Aufforderung und wie soll das überhaupt gehen?“
Ich erinnere mich an eine Werbung, die ich im Schaufenster einer Apotheke gesehen habe. Ein großes Plakat zeigt eine Frau, die sich gerade ihrer „Problemhaut“ entledigt. Wie ein Taucheranzug wird die alte, unansehnliche Haut abgestreift. Und aus der alten Haut schlüpft, wie neu geboren, ein Mensch mit zarter, junger, attraktiver Haut. Dies wird möglich, so suggeriert das Plakat, durch ein Medikament, das in der Apotheke käuflich zu erwerben ist. Geht das? Oder handelt es sich um eine der vielen Mogelpackungen unserer Tage?
Und ist das, was die Bibel uns da in Aussicht stellt, etwa auch eine Mogelpackung? Kann ein Mensch sich wirklich ändern? Kann bei mir etwas anders, etwas total neu werden? Oder bleibt letztlich doch immer alles beim Alten bei mir - und bei den andern - und draußen in der Welt auch?
Funktioniert das, was die Bibel verspricht? Ich denke: „So einfach und so schnell wie man gerade mal ein Hemd oder eine Hose wechselt geht es jedenfalls nicht!“
Aber dann muss etwas anderes im Vordergrund stehen, was der Verfasser unseres Bibelwortes im Auge hat und was ihn zu diesem gewagten Bild inspiriert. Er beschreibt diesen so genannten alten Menschen als programmiert von der Angst, zu kurz zu kommen, mit allen negativen, destruktiven Konsequenzen. Interessant und wichtig ist, dass er diesen Menschen vergleicht mit einem Kleidungsstück. Damit sagt er, dass ich nicht identisch bin mit ihm. Mein eigentliches ich, meine wahre Persönlichkeit hat damit wenig zu tun.
Es gab in unserer christlichen Kirche eine Bewegung, die genau das immer wieder zum Ausdruck gebracht hat, die sogenannten Mystiker, dass es nämlich in jedem Menschen einen Kern gibt, einen Raum, in dem nur Gott wohnt und in dem das Bild, das dieser sich von jedem Menschen gemacht hat, aufbewahrt und geschützt ist.
Anselm Grün, der Benediktinermönch aus Münsterschwarzach, kann in diesem Sinne formulieren: „Wir haben in uns einen Raum, zu dem die alltäglichen Probleme keinen Zutritt haben, in dem wir aufatmen können, weil Gott uns darin befreit von der Macht der Menschen und von der Macht des eigenen Über-Ichs, von der Macht der Sebstbeschuldigungen und der Selbstvorwürfe ... In diesem Raum wird alles, was mir zu schaffen macht, relativiert. Es hat keine letzte Macht über mich ... Ich weiß, dass in diesem Raum nichts über mich Macht hat. Weil ich schon heil und ganz bin, darf ich sanft und gut mit mir umgehen.“
Der Kern des Menschen, das eigentliche Selbst, Gottes Ebenbild in uns, sein lebendiger Atem, das ist das, was wir die Seele nennen. Das Ego ist nur Drumherum. Das bin nicht wirklich ich. Damit muss ich mich nicht identifizieren. Dazu kann ich auf Distanz gehen.
Martin Luther spricht von einem Menschen, der in sich selbst verkrümmt ist. Einer, der am Ende nur noch mit sich selbst beschäftigt ist und die Not seiner Mitmenschen gar nicht sieht. Erst die Liebe Gottes im Herzen löst diese Verkrümmung, diese Fixierung auf das Ego.
Hier liegt der Punkt, auf den alles ankommt, sagt uns die Bibel. Ihr seid nicht festgelegt darauf, so und nicht anders zu reagieren. Von eurem eigentlichen Selbst, von diesem Raum in euch, in dem Gottes Bild aufbewahrt ist, habt ihr die Möglichkeit, zu euch selbst auf Distanz zu gehen. Es ist nicht mehr wahr, dass ihr wie ein Roboter reagieren und auf Knopfdruck Böses mit Bösem vergelten müsst.
Durch innere Distanz zu dem alten Menschen, den ihr wie ein Bekleidungsstück an euch tragt, habt ihr die Möglichkeit, euch zu erneuern in eurem Geist und Sinn, neu zu werden in eurem Denken und Bewusstsein, würden wir heute eher sagen. Aus dem eigentlichen Selbst heraus kann ich dieses verfleckte, verschwitzte Hemd des alten Menschen betrachten und mich selbst fragen: Musst du das anbehalten? Passt das zu dir? Willst du das überhaupt? Ist das so vernünftig und gut?
Schon diese Frage zu stellen, schafft Abstand und damit Raum, neu zu denken und anders zu handeln. Ich bin mir nicht mehr nur selbst ausgeliefert und an mich selbst verloren. Ich habe eine Wahl, bekomme eine Alternative. „Zieht den neuen Menschen an!“
Wie sieht der neue Mensch aus? Im Brief an die Kollosser heißt es: „Ihr habt den alten Menschen ausgezogen und den neuen Menschen angezogen, der erneuert wird nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat.“ Hier wird ausdrücklich vom Ebenbild Gottes gesprochen, das mein wahres Selbst, den Kern meiner Person ausmacht. Von diesem Bild her geschieht das Neu-Werden, das neue Bewusst-Sein, das das neue Sein nach sich zieht; damit ein Mensch in einer konkreten Entscheidungssituation Freiheit, Freiraum hat, sich für Gerechtigkeit, Liebe, Wahrheit, Versöhnung, Ehrlichkeit bewusst zu entscheiden. Dass wir uns in diesem Sinne als Menschen Gottes ein neues Outfit leisten und darin eine gute Figur machen und als christliche Gemeinde darin auch attraktiv wirken.
Christliches Leben hat Maßstäbe. Und an unserem Umgang miteinander soll deutlich werden, wie Jesus uns frei gemacht hat, zur Nächstenliebe, die uns als Christen erkennbar macht. Denn wir sind versiegelt mit dem heiligen Geist. Das ist die Liebe, mit der Gott uns liebt. Und in seiner großen Liebe hat Gott uns das Gute in unser Herz gelegt. Jeder trägt es in sich, jeder kann es erspüren. Es ist die Kraft, die unser Leben heil machen kann.
Manchmal denke ich, dass Gott tatsächlich betrübt ist in seinem Heiligen Geist, wenn er sieht, was hier auf Erden geschieht. Ich kann mir vorstellen, wie sehr er an der Unvernunft und Lieblosigkeit der Menschen leidet. Aber Gott bleibt sich selber treu. Er steht zu seinem Wort. Er gibt uns die Chance, neu zu beginnen, und auf sein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit hin zu leben.
Die alten Klamotten passen nicht mehr zu uns, meint die Bibel. Sie sind abgetragen. Sie haben sich nicht bewährt. Wir brauchen neue Hoffnung und neue Perspektiven für die Zukunft und die Zukunft der kommenden Generationen. Es wird Zeit auf Gottes Wort zu hören und neue Wege einzuschlagen: „So leget den alten Menschen ab ... und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“ In Ewigkeit. Amen
Pfarrer Rainer Janus