Wort zum Sonntag – 17. 10. 2021

 

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert:
nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.
(Micha 6,8)

Albert Schweitzer erzählt in einem seiner Bücher, wie ein Klassenkamerad ihm an einem Sonntag vorschlägt: „Komm, jetzt gehen wir in den Rebberg und schießen Vögel.“ Sie hatten sich Schleudern gebastelt, mit denen man kleine Steine verschießen kann. Schweitzer will eigentlich nicht, aber er traut sich nicht nein zu sagen. Er will nicht ausgelacht werden.

Als sie den ersten Vogel in einem Baum entdecken, legt sein Freund einen Kiesel in die Schleuder und fordert Albert auf, das Gleiche zu tun. „In demselben Augenblick fingen die Kirchenglocken an zu läuten“, schreibt Schweitzer. „Es war das Zeichen-Läuten, das dem Hauptläuten eine halbe Stunde voranging. Für mich war es eine Stimme vom Himmel. Ich tat die Schleuder weg, scheuchte die Vögel auf, dass sie wegflogen und vor der Schleuder meines Begleiters sicher waren und ging nach Hause. Und immer wieder, wenn die Glocken … hinausklingen, denke ich ergriffen und dankbar daran, wie sie mir damals das Gebot: „Du sollst nicht töten“ ins Herz geläutet haben. Von jenem Tag an habe ich gewagt, mich von der Menschenfurcht zu befreien. … Die Scheu vor dem Ausgelachtwerden … suchte ich zu verlernen.“

Das Bibelwort, das uns vom Propheten Micha überliefert ist, bringt es auf den Punkt: Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert. Jeder hat ein Wissen darum, was gut ist oder schadet. Aber sozusagen als Erinnerung, dass es keiner vergisst: fügt der Prophet hinzu: Nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.

Das Wissen, das des Menschen Geist erforscht und gesammelt hat ist heutzutage unermesslich geworden. Die Nobelpreise, die jetzt wieder vergeben wurden, haben uns das eindrücklich vor Augen geführt. Aber: Wächst mit der Flut des Wissen auch die Gewissenlosigkeit? Vergessen die Menschen danach zu fragen, was gut ist und was schadet – und was der HERR von uns fordert? Wird stattdessen einfach alles gemacht, was machbar ist?

Vor 500 Jahren stand der Mönch Martin Luther vor dem Reichstag zu Worms 1521. Er sollte widerrufen, was er in seinen Schriften dargelegt hatte, von dem was gut ist und was Gottes Wille ist. Er sollte für falsch erklären, was er als Evangelium erkannt hatte, dass der Gott der Liebe uns nicht verurteilt, sondern befreit. Aber Martin Luther hat sich nicht gebeugt. Er ist seinem Gewissen treu geblieben.

Vielleicht ist es so, dass bei vielen Blindheit herrscht und sie den rechten Weg zur Seligkeit erst erkennen sollen. Und vielleicht stimmt das auch und es ist, wie das Sprichwort sagt: Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Die Vielfältigkeit der Zeit, die Flut von Eindrücken zieht so viel Aufmerksamkeit auf sich, dass wir blind werden für das Wesentliche. Und die Verschwörer mit ihren absurden Verschwörungstheorien wollen diese Blindheit noch verstärken und verfestigen.

Aber es gibt auch eine andere Bewegung in dieser Welt. Sie ist weniger schrill und weniger laut. Es gibt Menschen, die ihr Wissen und ihre Kraft für das Wohl anderer einsetzen, Menschen, die Liebe üben. Menschen, die Erziehen, Heilen und Helfen zu ihrem Beruf gemacht haben. Menschen, die sich im Ehrenamt in Vereinen und Kirchen für das Gemeinwohl engagieren. Die Pandemie hat uns gelehrt, den Dienst am Menschen neu zu sehen und neu zu schätzen.

Aber es geht nicht allein um den Menschen, es geht um das Leben insgesamt und um das Überleben der gesamten Schöpfung. Es braucht den Geist der Ehrfurcht vor dem Leben, den uns Albert Schweitzer ins Stammbuch geschrieben hat. All unser Wissen braucht ein Gewissen. Alles, was wir tun und lassen, braucht Verantwortung.

Wir werden im Partygedröhn dieser Welt die Glocken wieder hören, die uns an Gottes Gebot, an seinen guten Willen erinnern. Dass wir nicht vergessen, was gut ist oder schadet – und was Gott uns schenkt, nichts als Liebe, die lindert und tröstet und heilt.

Ich bin vergnügt, erlöst, befreit. Weil Gottes Zukunft mir offen steht – im Hier und Jetzt und in Ewigkeit. Amen.

 

Ihr Pfarrer Rainer Janus