Wort zum Sonntag – 16. Mai 2021
Raketen über dem Nachthimmel von Tel Aviv. Aktuelle Bilder von Zerstörung und Trümmern in den Medien. Ramadan und mögliche Zwangsräumungen von Häusern in Ostjerusalem führten vor wenigen Tagen zu gewalttätigen Ausschreitungen auf dem Tempelberg.
In der Folge eskaliert die Situation: Hamas feuert 2000 Raketen auf Städte und Siedlungen in Israel. Das israelische Militär übt Vergeltung durch Luftangriffe auf Raketenabschussrampen und andere militärische Ziele im Gazastreifen.
Der nahe Osten kommt nicht zur Ruhe. Hass und Unterdrückung schüren tagtäglich neu die Bereitschaft zur Gewalt und den Willen, den jeweils anderen zu vernichten. Mit großer Sorge nehmen wir wahr, dass mit jedem neuen Konflikt der Friede in der Welt ein Stück weiter in die Ferne rückt.
Jerusalem hat für Juden, Christen und Muslime eine besondere Bedeutung und manche Menschen sagen: Der Konflikt im nahen Osten ist ein Konflikt der Religionen. Und sie ziehen daraus den Schluss: Die Religion ist von Übel.
Aber immer da, wo Religion zu Gewalt führt, da handelt es sich um falsch verstandene oder missbrauchte Religion. Es gelingt dem Menschen immer wieder, den Glauben zu instrumentalisieren und sogar in sein Gegenteil zu verkehren. Wir kennen das auch aus der Geschichte des christlichen Glaubens mit Kreuzzügen und Hexenverfolgungen und bis hinein in die Gegenwart, wenn kirchliche Institutionen sexuellen Missbrauch decken.
Aber Religion ist das, was das Leben fördert und uns in schweren Zeiten Trost gibt. Jesus sagt: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Früchte des Glaubens sind der gute Wille unter den Menschen, die Liebe zu den Mitgeschöpfen und der Frieden auf Erden.
Wenn die Menschen ihre Religion verstehen und aus ihren religiösen Überzeugungen heraus leben würden, dann könnte man sich – nicht nur in Jerusalem - auch ein friedliches Miteinander vorstellen. Das hat uns der katholische Theologe Hans Küng gelehrt. Es war sein Lebenswerk, die Wege des Dialogs zwischen den Religionen zu erforschen und diesen Dialog auch zu führen. Vielleicht ruft uns sein Tod sein großes Anliegen der Verständigung und des gemeinsamen Ringens um die Wahrheit wieder in Erinnerung. Und vielleicht ist unser Bibelwort zur Predigt am Sonntag Exaudi ein Zeugnis für dieses Ringen um die Wahrheit, um das, was wir Menschen so dringend brauchen wie das Wasser, das den Durst stillt und das Leben möglich macht.
Der Evangelist Johannes berichtet von einem Zwischenruf Jesu mitten in Jerusalem und den alljährlichen religiösen Feierlichkeiten zum Laubhüttenfest:
Aber am letzten, dem höchsten Tag des Festes trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden, wie die Schrift sagt, Ströme lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht (Johannes 7, 37-39).
Das Laubhüttenfest gehört zu den größten und schönsten Festen Israels. Es ist das jüdische Erntedankfest. Man freut sich über die eingebrachte Ernte, und bittet um Regen und Wachstum für die folgende Vegetationsperiode. Zugleich erinnert man sich in Dankbarkeit des Auszugs aus Ägypten und wohnt während der Festwoche tatsächlich in Laubhütten, daher der Name.
Für die Juden ist das Laubhüttenfest ein Freudenfest und es heißt, wer dieses Fest nicht erlebt, der hat die Freude nicht gekannt. Die Menschen singen und tanzen auf den Straßen. Stellen wir uns einen orientalischen Basar vor! Nicht viel anders mag es auf dem Tempelplatz und in den Straßen von Jerusalem ausgesehen haben am Höhepunkt des Festes. An jeder Ecke wird irgendetwas angeboten. Händler verkaufen Opfertiere. Schafe blöken, Ziegen meckern, Tauben gurren. Die berühmten Geldwechsler bieten jüdische Schekel oder syrische Drachmen für heidnisches Götzengeld. Es wird einfach alles offeriert, was die Pilger kaufen könnten, die anlässlich des Festes zu Hunderten in die Stadt strömen: Souvenirs aus Gold und Elfenbein; oder für den kleinen Geldbeutel Reiseerinnerungen aus Ton und Holz. Gebrauchsgegenstände für den Alltag, die man nur in der Stadt bekommen kann: Töpferwaren, modische Kleidung. Verlockende Düfte steigen in die Nase. Es riecht nach fremden Gewürzen oder nach kostbaren Salben und Ölen. Hier werden Früchte angeboten, dort bekommt man getrockneten Fisch. Von allen Seiten dringen Stimmen auf einen ein. Marktschreier preisen ihre Waren an. Jeder strengt sich an, den anderen zu übertönen und sich Gehör zu verschaffen.
Inmitten dieses Festes zogen die Priester Tag für Tag mit einer goldenen Kanne vom Tempel zum Teich Siloah, um dort Wasser zu schöpfen. Sie brachten das Wasser unter Trompetenklängen und Gesängen in einer feierlichen Prozession zum Tempel, um es dort über dem Altar auszugießen. Wasser des Lebens. Der Ritus ist Dank und Bitte zugleich.
Am letzten und höchsten Tag des Festes ist Jesus im Tempel. Die Priester erinnern an das Wort des Propheten Jesaja: „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus dem Heilsbrunnen“. Sie gießen das Wasser aus über dem Altar. Es ist ein feierlicher Augenblick. Dabei herrscht tiefe, ergriffene Stille. In diese Stille hinein ruft Jesus: "Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!" Das ist einladend und provozierend zugleich. Die Wasser – Prozession der Priester ist eine Bitte an Gott, die Bitte um lebensspendendes Wasser. "Herr, lass uns nicht dürsten! Gib Regen zur rechten Zeit. Hilf uns, nicht zu vergessen, dass du uns das kostbare Wasser gibst, dass du uns das Leben ermöglichst." Und Jesus antwortet: „Kommt zu mir. Ich bin es, der euch das Wasser gibt." Jesus ist die Antwort Gottes auf das Gebet der Priester.
Der Durst des Lebens kann nicht mit einfachem Wasser gestillt werden. Der wirkliche und wahrhaftige Heilsbrunnen ist Jesus Christus, der Messias. Bei ihm können Menschen ihren Durst nach Leben stillen. Es wird in den Evangelien immer wieder berichtet, wie Jesus zu den Menschen seiner Zeit redet. Und es wird nicht verschwiegen, dass es darunter immer wieder Menschen gab, die nichts von ihm wissen wollten und ihr Glück woanders suchten! Aber durch die Güter dieser Welt lässt sich der Durst nach Leben nicht stillen. Das ist eine alte Erfahrung.
Wie viele Menschen haben auch heute Lebensdurst und versuchen diesen mit allem möglichen Dingen zu stillen. Angefangen bei Drogen und Alkohol. Auch die modernen Extremsportarten sind hier zu nennen, wo Menschen den ultimativen Kick erleben, wo ihr Körper Unmengen von Adrenalin ausstößt. Andere versuchen den Lebensdurst mit Arbeit zu stillen und werden zum Workaholiker. Für sie ist die Arbeit das Lebenselixier geworden. Aber sie alle spüren doch, dass ein erfülltes Leben noch einmal ganz anders aussehen müsste. Mitten in der Coronakrise sind viele Menschen wieder ins Nachdenken gekommen.
Dieser Durst nach einem sinnerfüllten Leben hat seinen Ursprung in der Verfehlung des Lebens und seiner Bestimmung. Wir sind als Gegenüber Gottes geschaffen. Damit ist unser Leben ein Leben, welches sich auf einer Urbeziehung mit Gott gründet. Ist diese Beziehung gestört, wird unser Leben unzufrieden und leer. Religion und Glaube helfen uns, zu finden, was dem Leben die Erfüllung schenkt.
Jesus Christus offenbart sich im Evangelium als Brot des Lebens, als der gute Hirte, als der Weg, die Wahrheit und das Leben - aber für viele Menschen seiner Zeit, die natürlich das Wahre, das Beste und das Schönste für ihr Leben zu erwerben suchten, war Jesus Christus nur einer unter vielen: Eine Stimme unter vielen anderen, die für sich in Anspruch nahm, den Durst das Lebens zu stillen. Und auch daran hat sich bis heute nichts geändert. Auch unsere Welt kann sich vor Angeboten kaum noch retten. Die christliche Botschaft ist eine Stimme unter den vielen Stimmen auf einem großen unüberschaubaren Markt der Möglichkeiten. Andere Stimmen sind lauter und schriller, die Menschen sind abgelenkt und mit sich selbst beschäftig.
Aber unsere Welt braucht die Botschaft Jesu, weil sie aus sich selbst heraus nicht zum Frieden und zur Erfüllung von Leben findet. Wir alle brauchen den von Gott gesandten Erlöser. Wir können uns nicht selbst erlösen. Ohne Jesus Christus bleibt der Durst unseres Lebens ungestillt.
Mag sein, dass ein Leben im Glauben, was die äußeren Annehmlichkeiten dieses irdischen Lebens betrifft, nicht besonders reich gesegnet ist. Aber unsere innere Leere, unsere Sehnsucht nach Heil, nach Sinn und nach einer Zukunft, für die sich dieses Leben lohnt, die empfängt ihre Erfüllung in der Person Jesu Christi, der da spricht: Wen da dürstet, der komme zu mir; und es trinke, wer an mich glaubt.
Ich muss immer wieder an eine Situation denken, die Antoine de Saint Exypery in seinem Roman "Wind, Sand und Sterne" beschreibt. Menschen aus der Wüste sehen bei einem Aufenthalt in Savoyen zum ersten Mal im Leben einen Wasserfall. Und sie können sich von diesem Anblick nicht losreißen. "Hier lief aus dem Bauch des Berges das Leben selbst. Der Ertrag einer Sekunde hätte unzählige verschmachtende Karawanen zum Leben erweckt. Hier zeigte sich Gott sichtbar. Unmöglich war es, einfach gleich weiterzugehen. Gott hatte die Schleusen seiner Macht geöffnet." Irgendwann musste dieser Wasserfall doch versiegen. Unvorstellbar, dass Gott diese Verschwendung nicht bereuen würde.
Aber Gott bereut nicht. Er hat seinen Heiligen Geist in seiner verschwenderischen Fülle in diese Welt gesandt. All das, was unter uns an Liebe, an Versöhnung und an Frieden möglich ist, das kommt von ihm. Und in Jesus Christus hat er diese Botschaft in unsere laute, vielbeschäftigte Welt hinein geschrien.
Darum hört auf seine Stimme und lasst Euch Euren Durst nach Leben nicht ausreden. Lasst Euch Euren Hunger nicht abkaufen. Lasst Euch nicht betören durch die vielen Stimmen auf dem Markt der Möglichkeiten. Empfangt und gebt die Liebe weiter, die Gott uns in Jesus Christus schenkt. Denn das, was Gott uns schenkt, das haben wir und das hat diese Welt bitter nötig – bis wir Frieden finden in Jerusalem und anderswo - bis wir Frieden finden in Gott und in uns selbst. Amen
- O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein. Gieß aus dein heilig Feuer, rühr Herz und Lippen an, dass jeglicher getreuer den Herrn bekennen kann.
- O du, den unser größter Regent uns zugesagt: komm zu uns, werter Tröster, und mach uns unverzagt. Gib uns in dieser schlaffen und glaubensarmen Zeit die scharf geschliffnen Waffen der ersten Christenheit.
- Unglaub und Torheit brüsten sich frecher jetzt als je; darum musst du uns rüsten mit Waffen aus der Höh. Du musst uns Kraft verleihen, Geduld und Glaubenstreu und musst uns ganz befreien von aller Menschenscheu.