Wort zum Sonntag – 13. Juni 2021

Paulus schreibt im zweiten Brief an die Christengemeinde in Korinth: Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber darum, dass ihr prophetisch redet!

Denn wer in Zungen redet, der redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; denn niemand versteht ihn: im Geist redet er Geheimnisse. Wer aber prophetisch redet, der redet zu Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde. ...

Es gibt vielerlei Sprachen in der Welt, und nichts ist ohne Sprache. Wenn ich nun die Bedeutung der Sprache nicht kenne, werde ich ein Fremder sein für den, der redet, und der redet, wird für mich ein Fremder sein. So auch ihr: Da ihr euch bemüht um die Gaben des Geistes, so trachtet danach, dass ihr sie im Überfluss habt und so die Gemeinde erbaut. ...

Darum ist die Zungenrede ein Zeichen nicht für die Gläubigen, sondern für die Ungläubigen; die prophetische Rede aber ein Zeichen nicht für die Ungläubigen, sondern für die Gläubigen.

Wenn nun die ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme und alle redeten in Zungen, es kämen aber Unkundige oder Ungläubige hinein, würden sie nicht sagen, ihr seid von Sinnen? Wenn aber alle prophetisch redeten und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger hinein, der würde von allen überführt und von allen gerichtet; was in seinem Herzen verborgen ist, würde offenbar, und so würde er niederfallen auf sein Angesicht, Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter euch ist. (1. Korinther 14)

Jesus redet Klartext, wenn er sagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt. 18. 20)  Und der Rabbi aus Nazareth spricht deutliche Worte, wenn er seine Jünger lehrt: Wahrlich, ich sage euch: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25, 40)

Er steht damit in der Tradition der Propheten des Alten Testaments, die eben keine Wahrsager oder Kaffeesatzleser waren, sondern Menschen, die mit klaren und eindeutigen Worten vom Willen Gottes gesprochen haben; und eben auch von den Konsequenzen, wenn Gottes Willen, Gottes Liebe mit Füßen getreten werden.

Auch der Apostel Paulus macht eine klare Ansage: „Strebt nach der Liebe!“ schreibt er der Gemeinde in Korinth. Es geht dem Apostel um eine grundlegende Orientierung des christlichen Glaubens in einer Gemeinde, die mit ganz verschiedenen Konflikten beschäftigt ist – und vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Die Liebe ist das untrügliche Kennzeichen der Gegenwart Gottes. Alles andere - aber auch wirklich alles - ist zweitrangig. „Strebt nach der Liebe!“, denn die Liebe ist das, was die Gemeinde, die Gemeinschaft mit Gott, konstituiert.

Nun gab es eben in der Christengemeinde zu Korinth Menschen, die Zungenrede attraktiv fanden. Solche Menschen gibt es bis auf den heutigen Tag und vor vielen Jahren konnte ich in einer Pfingstgemeinde an so einem Zungengebet teilnehmen. Der ganze Raum war voll von unterschiedlichen Lauten. Es wirkte auf mich auch irgendwie melodiös – eine Art Singsang auf- und abschwellend, nicht unschön, aber gewöhnungsbedürftig und eben nicht zu verstehen.

Unverständliche Rede lehnt Paulus ab. Sie bringt nichts. Und es gibt eben auch Wichtigeres zu tun. Prophetische Rede wäre wichtig: Eine klare Ansage, was Gott will, und was Ursprung, Ziel und Aufgabe eines jeden Lebens ist. Die Gemeinde, die Gemeinschaft mit Gott, soll auferbaut werden, also Glaube soll geweckt, Vertrauen gestärkt, Wahrheit gelebt, Nächstenliebe geübt werden, damit Kranke geheilt, Trauernde getröstet, Ertrinkende gerettet, Hungernde satt werden.

„Strebt nach der Liebe!“ Das Kennzeichen Gottes soll auch Euer Markenzeichen sein. Und wo außen Christ draufsteht, da soll auch Liebe drin sein, sonst wäre das eine Mogelpackung. Oder um den katholischen Ordensmann und Theologen Stefan Dartmann zu zitieren: "Für Christen sollte es selbstverständlich sein, dass sie andere Menschen nicht ausgrenzen, sondern vielmehr solidarisch dazu beitragen, Menschen vom Rand in die Mitte der Aufmerksamkeit zu holen."

Auch Papst Franziskus hat in seinem ersten Lehrschreiben „Evangelii gaudium“, „Die Freude des Evangeliums“, der Kirche den Weg an die Ränder der Gesellschaft gewiesen, zu den Armen und Bedürftigen. Recht hat er. Das, und nur das, ist Verkündigung des Evangeliums. Die Hinwendung zu den Mühseligen und Beladenen ist das, was Nachfolge ausmacht. Und unmissverständliche Nächstenliebe ist die einzige Sprache, die Menschen heute noch verstehen. Das ist ein Punkt, in dem wir im ökumenischen Miteinander hundertprozentig übereinstimmen.

2000 Jahre trennen uns von Paulus und von den frühen Christen in Korinth. Und der Mensch hat in diesen langen Jahrhunderten weitreichende geistesgeschichtliche Entwicklungen durchgemacht. Eine dieser Entwicklungen ist die Individualisierung des Bewusstseins, die Entdeckung des eigenen Ich, die uns aus dem Mittelalter heraus in die Zeit der Aufklärung und in die Moderne führt. Auch in Glaubensdingen geht es heutzutage nicht mehr um das Wir, sondern um das Ich und die Frage, was nützt es mir? Was nützt mir mein Glaube? Oder: Welcher Glaube nützt mir etwas? In welchem Glauben finde ich meine Erfüllung? Die eigenen Bedürfnisse werden absolut gesetzt, Glaube und Glaubensinhalte dabei relativiert.

In einer Fernsehsendung kam jüngst eine dreiunddreißigjährige Frau zu Wort, die mitten im Trend der vielen Kirchenaustritte in die Kirche eingetreten ist. In der ehemaligen DDR aufgewachsen, war sie lange auf der Suche in verschiedenen Religionen – ohne zu finden, was sie für sich gebraucht hat. Im Hintergrund standen schwere Trauererfahrungen beim Tod und Abschied von ihrem Vater. Durch ihren katholischen Mann hat sie Zugang zum Gebet gefunden. Sie konnte im Gebet die Last ihres Leben vor Gott bringen und ablegen. Sie hat sich in der Osternacht taufen lassen. Wichtig war ihr, in der Dunkelheit in die Kirche zu kommen und nach der Taufe draußen das Licht des Ostermorgens zu erfahren.

Ich freue mich, dass die Frau in die Gemeinschaft einer christlichen Kirche hineingefunden hat. Ich freue mich, dass sie im christlichen Glauben eine Erfüllung findet, die ihr hilft, ihre Trauer zu bewältigen, und dass sie öffentlich im Fernsehen darüber reden konnte. Aber der Apostel Paulus würde warnen und sagen: Es geht im christlichen Glauben nicht allein um die Erfüllung deiner individuellen Bedürfnisse. Es reicht nicht, wenn Du allein zum Licht der Auferstehung findest. Eine Beziehung mit Gott, die von der Not der geringsten Brüder und Schwestern absieht, ist nicht denkbar. „Strebt nach der Liebe!“

Weltweit sind die Pfingstkirchen im Wachstum begriffen. Vor allem in Südamerika und Afrika breiten sie sich aus, während in den westlich geprägten Kirchen die Mitgliederzahlen schwinden. Diese Pfingstgemeinden machen Begeisterung erfahrbar, die Freude am Evangelium wird gefeiert, nicht besprochen oder beschrieben. Und ihr Glaube ist verbunden mit hohen moralischen Ansprüchen, was ihn für viele Frauen in prekären Lebensverhältnissen so attraktiv macht. Nur im christlichen Kontext ihrer Gemeinde gelingt es ihnen, die Männer vom Alkohol zu befreien und dafür zu sorgen, dass sie sich um Kinder und Familie kümmern. Vielleicht könnte der Apostel Paulus heutzutage auch darin ein Streben nach Liebe erkennen und die „unverständlichen“ Geistesgaben der Pfingstler milder beurteilen.

Die konfessionell geprägten Kirchen der westlichen Zivilisation haben im Lauf der Geschichte andere Wege gefunden, ihrem Glauben Ausdruck zu geben. Die verbissene und agressive Konfessionalität des Mittelalters führt beispielsweise in der Moderne zu einer großen Toleranzbewegung.

Ich erinnere daran, dass wir in diesem Jahr das zweihundertjährige Jubiläum der badischen Union begehen, also den Zusammenschluss der reformierten und der lutherischen Protestanten im Großherzogtum Baden. Und der Graben zwischen den beiden protestantischen Lagern war manchmal noch tiefer als die Abgrenzung gegenüber der katholische Kirche. Wir haben diese Gräben überwunden – im Geist der Liebe Gottes.

Dazu gehört dann auch das Engagement in der Flüchtlingsarbeit, für die Bewahrung der Schöpfung und für den Frieden oder die Versöhnung mit Israel. Und ganz grundlegend gehört dazu die Bildungsarbeit als Basis für ein Leben in Gerechtigkeit und Freiheit.

Liebe kann sich unterschiedlich artikulieren. Sie hat Teil an der überschwänglichen Fülle Gottes. Kirchen, Gemeinden, Christen dürfen nach ihren Gaben Schwerpunkte setzen, wenn sie dem Geist der Liebe entsprechen.

„Strebt nach der Liebe,“ sagt der Apostel Paulus, „dann könnt ihr nichts falsch machen.“ Ich würde sagen: „Lasst Euch von Gottes Liebe ergreifen, begeistern und erfüllen! Dann macht ihr alles richtig!“

Die Liebe spricht verschiedene Sprachen! Sie zeigt sich in unterschiedlichster Gestalt. Aber sie wird immer erkannt und überall verstanden. Im Werk der Liebe, in der Hinwendung zu den Geringsten, finden wir am Ende auch den Sinn und die Erfüllung, die wir suchen, nämlich Heil und Zukunft für unser eigenes Leben in Zeit und Ewigkeit. Amen

Ihr Pfarrer Rainer Janus