Wort zum Sonntag – 11. Oktober 2020

Am Ende des 5. Buch Mose lesen wir:

Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern.

Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir's hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir's hören und tun?

Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.

Siehe, ich lege dir heute das Leben und das Gute vor, den Tod und das Böse.

Dies ist's, was ich dir heute gebiete: dass du den HERRN, deinen Gott, liebst und wandelst in seinen Wegen und seine Gebote, Gesetze und Rechte hältst, so wirst du leben und dich mehren, und der HERR, dein Gott, wird dich segnen in dem Lande, in das du ziehst, es einzunehmen.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das waren die Werte, für die die Menschen in der französischen Revolution gekämpft haben: Liberté, égalité, fraternité. Nicht nur in der französischen Revolution! Immer wieder greifen Menschen zu den Waffen, riskieren ihr Leben, um das Joch der Knechtschaft abzuwerfen. Denken wir an Weißrussland oder aktuell an Kirgistan oder auch an den aussichtlosen Kampf der Bürger von Hongkong.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Für uns hier in Deutschland sind diese Werte zur Selbstverständlichkeit geworden. Seit mehreren Generationen leben wir in einem Staat mit einer freiheitlichen, demokratischen Grundordnung, haben uns daran gewöhnt, verlassen uns darauf, dass Menschenwürde und Menschenrechte vom Grundgesetz garantiert werden, genießen sozusagen die Früchte, die andere für uns erstritten haben.

Nur die Älteren unter uns können noch berichten von der Zeit, da die Freiheit in Gefahr war, als in Deutschland Blockwarte und Gauleiter das Sagen hatten, als noch nicht einmal in der eigenen Familie ein offenes Wort möglich war, weil keiner vor Bespitzelung sicher sein konnte. Und niemand wusste, wer einen am nächsten Tag bei der Gestapo anschwärzen würde, der Freund, die Schwester oder die eigenen Kinder.

Nur die Älteren können noch aus eigener Anschauung davon erzählen, wie das war unter Hitler und Stalin, oder auch unter Honecker und der SED. Und vielleicht sind es deshalb auch oftmals die Älteren, die die Errungenschaften der Freiheit besonders zu schätzen wissen: Reisefreiheit, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Unveräußerlichkeit der Menschenwürde.

Was aber zur Selbstverständlichkeit geworden ist, das gerät sehr leicht in Vergessenheit. Und das ist die große Gefahr, in der die Freiheit steht, dass wir sie verlieren. Dass wir uns unversehens in der Unfreiheit wiederfinden, wenn wir nicht achtsam sind und uns die Freiheit nicht bewahren.

Und das ist auch die Botschaft die Mose dem Volk Israel mitgibt auf den Weg hinein in das gelobte Land. „Bewahrt Euch die Freiheit. Gott hat Euch herausgeführt aus der Knechtschaft in Ägypten. Eure Väter waren Sklaven. Bewahrt auch Eure Kinder, dass sie nicht in neue Abhängigkeiten geraten.“

Mose weiß: Freiheit gibt es nicht ohne den Gott der Liebe. Der Weg durch die Wüste darf nicht umsonst gewesen sein. Mose steht auf dem Berg Nebo. Er blickt zurück auf den Weg, der alles andere als leicht war: Er spürt und empfindet sie noch: Die Angst, die Not und die Entbehrungen der Wüste. Aber er durfte diesen Weg an der Hand Gottes gehen. Gott hatte seinem Volk die Treue gehalten. Trotz Goldenem Kalb und mancherlei Zweifel hatte er ihnen die zehn Gebote geschenkt, als die zehn Angebote zum Leben – zu einem Leben, das frei ist von aller Knechtschaft – auch von der Sklaverei der Sünde und Gottlosigkeit.

Der Blick nach vorn erfüllt den alten Mose mit Sorgen. Er sieht das Land, in dem Milch und Honig fließen. Er sieht aber auch die Herzen der Menschen, die sich verführen lassen und dabei in neue Abhängigkeiten geraten und den Gott vergessen, der sie zu einem Leben geschaffen und geführt hat.

Was der Gottesmann wusste ist so einfach und so naheliegend, dass es jeder wissen könnte: „Wenn ihr die Liebe zu dem einen lebendigen Gott in Eurem Herzen bewahrt, dann werdet ihr frei sein und leben.“

Dies ist's, was ich dir heute gebiete: dass du den HERRN, deinen Gott, liebst und wandelst in seinen Wegen, so wirst du leben und der HERR, dein Gott, wird dich segnen.

Jahrhunderte später hat Martin Luther von den Verführungen durch Habgier und Besitz gesprochen und hat gesagt: Woran du nun dein Herz hängest, das ist dein Gott. Und die Menschen heutzutage hängen ihre Herzen an Handy und Autos. Der Grund für die Verrohung unserer menschlichen Gesellschaft liegt eben auch und gerade in der Lieblosigkeit und Gottlosigkeit jener, die nur ihren eigenen Vorteil suchen.

Im ersten Gebot heißt es klar: Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus der Knechtschaft in Ägypten in die Freiheit geführt habe. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Wo Gottes Liebe in einem Menschenherzen wohnt, da hat der Egoismus keinen Platz mehr.

Mose hat Sorgen, aber er hat auch Hoffnung. Schließlich hat er immer wieder Gottes Liebe und Treue erlebt, die größer ist als unsere menschliche Untreue. Mose weiß, dass Gott auch dann ganz nahe ist, wenn wir uns von ihm entfernt haben. Mose selbst war vom ägyptischen Königshof in die Wüste geflohen, und er hatte ein neues Leben angefangen. Aber mitten in der Wüste am brennenden Dornbusch hatte Gott ihn, den Mörder, wieder gefunden und in seinen Dienst gerufen.

Gott würde treu zu seinem Bund stehen und seine Verheißungen erfüllen, dass eines Tages alle Menschen in den Bund der Liebe aufgenommen werden. Jesus Christus hat später zur Nächstenliebe aufgerufen, weil er wusste, dass man einen guten Baum an seinen guten Früchten erkennt. Die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille.

Auch wir sehen manchmal mit Sorgen in die Zukunft. Und manche Sorgen sind mehr als berechtigt. Aber da, wo Verschwörungstheorien Nährboden, wo Lügen zur Politik werden, wo die Menschen menschenverachtend und das Leben lebensfeindlich werden, da braucht es unsere Liebe. Und da braucht es auch unseren Verstand und allen guten Willen - und nicht zuletzt unser Gottvertrauen und unseren Glauben – dass die Liebe eine Chance hat wie im Himmel so auf Erden.

Gehen wir hoffnungsvoll in unsere Zukunft und nehmen die Worte des Mose mit auf unsere Wege: Dies ist's, was ich dir heute gebiete: dass du den HERRN, deinen Gott, liebst und wandelst in seinen Wegen, so wirst du leben und der HERR, dein Gott, wird dich segnen. Amen

Pfarrer Rainer Janus