Wort zum Sonntag – 07.11.2021

Die Psalmen sind die alten Lieder des Volkes Israel. Und in den Psalmen ist auf vielfältige Weise von der Liebe die Rede, die uns Menschen mit Gott verbindet.

Wahrscheinlich hat nahezu jeder Mensch, seine eigenen und ganz individuellen Erfahrungen, die wach oder lebendig werden, wenn das Thema Liebe anklingt.

Aber es sind eben nicht nur gute Erfahrungen in Sachen Liebe, die unseren Lebensweg umsäumen.

Es gibt eben auch herbe Enttäuschungen, die in Trennung und langwierigen Zerwürfnisse münden, die unsere Lebensentwürfe und unser Vertrauen in die Zukunft zerstören. Und während die Welt der Schlager und Songs unserer Tage oftmals nur die oberflächliche Schönheit der Liebe besingt, gehen die Psalmen und Texte der Bibel in die Tiefe und nehmen die ganze Wirklichkeit des Lebens wahr.

Und vielleicht ist das das Geheimnis vieler Psalmen, die uns zu Herzen gehen, dass sie unsere Gefühle ansprechen und dass sie uns damit auch ernstnehmen mit unserer Gefühlswelt. Gefühle sind stark. Wir Menschen lieben und hassen. Wir trauern, klagen, bangen und empfinden Hilflosigkeit. Wir hoffen und sehnen uns nach Glück. Gefühle gehören zu uns. Sie machen uns aus und leiten unser Handeln. Wir tun gut daran, sie nicht zu verdrängen, sondern mit Sorgfalt den Raum zu geben, den sie brauchen.

Im 85. Psalm hören wir zunächst einmal von guten Tagen und von guten Erinnerungen. Aber die guten Tage scheinen vorbei zu sein. Sie sind nur noch Erinnerung. Und die Menschen stimmen ein Klagelied an.

HERR, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande und hast erlöst die Gefangenen Jakobs; der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk und all ihre Sünde bedeckt hast; der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen und dich abgewandt von der Glut deines Zorns: Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!

Der 85. Psalm gehört zur Gattung der Klagelieder des Volkes. Und er stammt aus einer Zeit der Resignation und der enttäuschten Erwartungen. Wer die Geschichte Israels kennt, der weiß, dass Jerusalem zu Beginn des 6. Jahrhunderts zerstört wurde und die Bevölkerung nach Babylon deportiert wurde. Aber ein halbes Jahrhundert später kam der Perserkönig Kyros und überwand das babylonische Großreich. Schließlich und endlich konnten die Kriegsgefangenen und ihre Kinder nach 70 Jahren wieder heimkehren. Es war ein bewegender Moment der Weltgeschichte, der immer wieder mit dem Auszug aus der Knechtschaft in Ägypten verglichen wurde, das Urerlebnis der Befreiung und die prägende Erfahrung Israels mit seinem Gott.

Aber Jerusalem war ein Trümmerhaufen. Der Tempel war zerstört. Die großen Hoffnungen, die mit dem Gedanken an die Heimat, das gelobte Land, verbunden waren, lagen in Scherben. Die in Jubel und Euphorie Zurückgekehrten erleben die Enttäuschung ihres Lebens.

In dieser Stimmung erinnert der Psalmist Gott an seine Güte und an seine Barmherzigkeit, die nicht aus der Luft gegriffen sind, sondern als Heilsgeschichte erfahrbar waren, wie einst die Befreiung aus der Sklaverei. Und indem er Gott erinnert, erinnert er auch uns alle an den Grund unserer Hoffnungen und Sehnsüchte: Die Heimkehr, an die kaum noch einer geglaubt hat, war ein Zeichen, dass dieser Gott handelt in der Geschichte. Gott hat sein Heilswerk begonnen und er wird es auch vollenden.

Die Klage des Volkes äußert sich in intensiven Bitten: Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns! Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für? Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann?  HERR, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil!

Trauer soll überwunden werden. Alte Wunden sollen heilen. Neue Hoffnung soll aufkeimen. Freude soll wieder einkehren in die Herzen der Menschen. Das war der Wunsch und die große Sehnsucht, die die Herzen der Menschen damals erfüllte. - Auch heute erleben wir, dass nicht alles gut ist auf dieser Welt. Wir stehen vor so manchem Trümmerhaufen und es will uns nicht gelingen, mit den Problemen der Welt fertig zu werden.

Warum können die Kriege kein Ende finden und die Waffen schweigen? Warum müssen Millionen von Menschen aus ihrer Heimat fliehen, um in Sicherheit und Wohlstand zu leben? Warum gibt es den Hunger und die Lebensmittel werden nicht gerecht verteilt? Warum müssen die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer? Warum gelingt es uns Menschen mit unserem Wissen und unseren Möglichkeiten nicht, Gerechtigkeit und Frieden für alle zu schaffen?

Auch gerade in Zeiten der Pandemie werden viele Fragen virulent. Und viele Menschen sind ins Nachdenken gekommen und bewerten vieles heute anders als noch vor einigen Jahren. Der Wunsch nach einer neuen, menschlicheren Welt steht greifbar im Raum. Und je hektischer unsere Politik reagiert, desto klarer wird das Verlangen nach tragfähigen, langfristigen Konzepten für ein gelingendes Miteinander im globalen Weltgeschehen.

Vielleicht bräuchte auch unsere Zeit eine Form, ihre Klagen zu formulieren und zu äußern. Vielleicht bräuchten wir eine Art Klagemauer, an der wir unsere Ängste und Sorgen aussprechen, aber nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern vor aller Welt. Denn es ist nicht nur unsere Zukunft, die am Zerbrechen ist, es ist auch die Zukunft unserer Kinder. Und nur die Klage, die ausgesprochen und gehört wird, kann verändern und die Not zum Guten wenden.

Im Psalmlied folgt auf die Bitte des Volkes nach Gnade und Heil eine Art persönliches Trostwort: Könnte ich doch hören, was Gott der HERR redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, auf dass sie nicht in Torheit geraten. Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne; dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen;  dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue; dass uns auch der HERR Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe; dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge.

Der innige Kuss von Gerechtigkeit und Friede gehört sicherlich zu den schönsten Bildern der Psalmlieder. Und wenn Gerechtigkeit und Friede sich küssen, dann gesellen sich Güte und Treue dazu und das ist der Boden auf dem das Gute wachsen und gedeihen kann.

Das Trostwort malt in den schönsten Farben ein Welt, wie sie sein könnte und sein sollte. Vielleicht kommt das manchem zu schnell und zu billig vor. Von der Gerechtigkeit und vom Frieden, wie er hier anklingt, sind wir viel zu weit entfernt. Vielleicht wird es deshalb so vorsichtig eingeleitet mit dem Wunsch, eine positive Antwort Gottes zu hören auf die Klagen und Bitten des Volkes damals und der Völker heute.

Damals in Jerusalem hat es viele Jahrzehnte gedauert, bis die Stadt und der Tempel wieder aufgebaut waren, bis das Leben wieder in gewohnten Bahnen verlief. Aber was wäre gewesen, wenn die Menschen das alte Psalmlied nicht gesungen hätten, wenn sie diesen Traum von der inniglichen Verbindung von Gerechtigkeit und Friede nicht in sich getragen und nicht mitgeträumt hätten.

So wie Gott die Klagelieder seines Volkes gehört und erhört hat, so hat er auch heute offene Ohren für die Stimmen derer, die ihre Ängste und Sorgen vor ihn bringen. HERR, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil! -Und Gott ist nicht stumm geblieben. Seine Antwort hat er uns gegeben in Jesus von Nazareth. Durch ihn hat er seine Heilsgeschichte weiter geschrieben und hat deutlich gemacht, dass er seine Liebe allen seinen Geschöpfen gleichermaßen schenken will. Durch Jesus hat er uns seine Gnade gezeigt und hat uns sein Heil gegeben, dass wir es im Glauben ergreifen.

Und durch sein Wort im Alten wie im Neuen Testament hat er uns Bilder von diesem Heil, von dieser Zukunft ins Herz gelegt. Und deshalb ist es so wichtig, dass Gottes Wort auch heute gehört und gelesen wird – auch von unseren Kindern. Denn auch die folgenden Generationen brauchen eine Hoffnung. Sie brauchen Bilder für ihre Sehnsucht, die ihnen Kraft geben und sie bewegen, ihre Zukunft zu gestalten im Geist der Liebe Gottes, dass in unserm Lande Ehre wohne; dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen;  dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;  dass uns auch der HERR Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe;  dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge. Ja, so soll es sein. Amen.

Ihr Pfarrer Rainer Janus