Wort zum Sonntag – 03. Januar 2021

Von den vier Evangelisten des Neuen Testaments ist Lukas der Einzige, der mit der Geschichte vom 12jährigen Jesus im Tempel etwas von der Jugendzeit Jesu zu berichten weiß.

Er erinnert uns daran, dass Jesus die Entwicklungen der Jugendzeit mit ihren guten und den undankbaren Seiten wohl genauso durchlaufen und durchlitten hat, wie ein jeder von uns.

Lukas erzählt: „Und seine Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes.

Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem, und seine Eltern wussten's nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn.

Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten. Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich.

Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Kind, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte.

Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth und war ihnen gehorsam. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.“ (Lukas 2, 41-52)

Natürlich fragen wir uns: Was hat der Evangelist mit dieser Jugendgeschichte im Sinn? Ist das Zufall? Ist Lukas vielleicht der Einzige, der um diese Erinnerung aus der Kindheit und Jugend wusste? Oder kannten die anderen Evangelisten die Geschichte auch, aber hielten sie für eine unwichtige Randnotiz, für Kinderkram oder eine Belanglosigkeit?

Wer den Evangelisten Lukas kennt, der ahnt schon, dass da mehr dahinter steckt und dass Lukas diese Jugenderinnerung ganz bewusst eingefügt hat. Es geht ihm dabei um eine zutiefst theologische Fragestellung, nämlich um die Frage nach der Person Jesu als Sohn Gottes. War Jesus ein echter Mensch aus Fleisch und Blut, oder war er ein göttliches Wesen, das nur menschliche Gestalt angenommen hat? Die Antwort des Lukas ist paradox und unbegreiflich: Für ihn ist Jesus wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich.

Für das Evangelium nach Markus scheint diese Frage nach der Natur oder dem Wesen Jesu noch nicht von großem Interesse gewesen zu sein. Für Markus ist Jesus ein Mensch, der bei seiner Taufe von Gott sozusagen adoptiert wird. Bei der Taufe am Jordan erklärt die Stimme Gottes: Das ist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen. Petrus und die Jünger erkennen ihn nach und nach als Gottes Sohn, aber erst nach dem Kreuzestod ist es für alle erkennbar und der römische Hauptmann unter dem Kreuz spricht es als Erster aus: Wahrlich dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.

Für Lukas ist klar, wenn Jesus wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich war, dann war er das von Anfang, von Geburt an. Und Lukas sucht und sammelt für sein Evangelium überlieferte Erzählungen aus dem Leben Jesu, die genau das zu Ausdruck bringen. Er berichtet von der armseligen Geburt im Viehstall, als Erweis für die menschliche Natur und gleichzeitig hören wir Engelgeschichten, die das göttliche Wirken deutlich machen. Und schon im Kind in der Krippe, nicht erst an dem Mann am Kreuz kann und soll der Leser erkennen, was mit dem Verstand nicht zu begreifen ist, in Jesus wird Gott Mensch - uns zu gut.

Weihnachten ist sozusagen der Augenblick in der Weltgeschichte, in der die Tür zum Himmel offen ist. Der Augenblick, in dem Gott den Himmel verlässt und auf die Erde kommt, damit seine Schöpfung vollendet wird, und das Heil, das er den Menschen verheißen hat, auch erfahrbare Realität.

Aber wenn das so ist, wenn in dem Menschen Jesus Gott selbst zu uns kam, dann erfährt er das doch nicht erst bei seiner Taufe durch eine Stimme aus dem Himmel. Jesus wird doch von Anfang gewusst haben, was seine Aufgabe und Bestimmung ist. Und das findet Lukas nun bestätigt in der Überlieferung vom 12jährigen Jesus im Tempel. Jesus spricht davon, dass er in dem bleiben muss, was seines Vaters ist, und er meint damit nicht Josef, den leiblichen Vater, sondern seinen Vater im Himmel. Jesus spricht betont von seinem Vater nicht von allgemein von unserem Vater. Jesus weiß also um seinen Auftrag, bevor er nach jüdischer Sitte erwachsen und mündig wird. Und er weiß natürlich auch um den Weg, den er gehen wird.

Vielleicht ahnte der jugendliche Jesus schon, dass er einst den Tempel von unfrommen Geschäftemachern reinigen wird, die weniger an Gott als an ihren Profit dachten (Matthäus 21, 12 - 17).

Vielleicht war dem 12jährigen Jesus auch schon im Blick, dass er später als erwachsener Mann mit Blick auf sich selbst sagen würde: „Hier ist Größeres als der Tempel“ (Matthäus 12, 6).

Vielleicht wusste der jugendliche Jesus damals auch, dass er einst im Anblick des herrlichen Tempels weinen würde, als sein himmlischer Vater ihm offenbarte, dieses herrliche Gotteshaus werde zerstört, weil Israel die Stunde der göttlichen Gnadenbotschaft durch ihn selbst nicht genutzt hatte (Lukas 19, 41 - 44).

Viele Religionen sprechen in ihren Schöpfungserzählungen davon, dass der Mensch als solcher göttlicher Abstammung sei, dass wir Menschen sozusagen einen Funken von Göttlichkeit unveräußerlich in uns tragen. Diesen Gedanken lehnt die jüdisch – christliche Tradition ganz entschieden ab. Wir sprechen von Gott dem Schöpfer auf der einen Seite und von seiner Schöpfung und von seinen Geschöpfen auf der anderen Seite. Zwischen Gott und Mensch gibt es keine Abstammungslinie oder irgendeine genetische Verbindung, die den Menschen abhebt von Affen, Rindviechern und Regenwürmern. Wenn wir uns trotzdem Kinder Gottes nennen dürfen, dann deshalb, weil Gott selbst den Graben zwischen Schöpfer und Geschöpf übersprungen hat. Wir sind Kinder Gottes, weil er in Jesus unser Bruder geworden ist.

Die menschliche Natur Jesu kommt in der noch kindlichen Selbstvergessenheit zum Ausdruck, die gar nicht realisiert, dass menschliche Eltern sich in dreitägiger Suche Sorgen machen, während er altklug mit den Gelehrten im Tempel theologisiert. Es mag ein Trost sein, dass auch die frommen Eltern nicht verstehen und nicht verstehen können, was Jesus ihnen sagt. Seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken und unsere Wege nicht seine Wege.

Aber auch diesem menschlichen Nicht-Verstehen verschließt Jesus sich nicht. Er ehrt und achtet seine menschlichen Eltern genauso, wie seinen Vater im Himmel. Er wird als ältester Sohn, die kleineren Geschwister betreut und beaufsichtigt haben. Er wird dem Vater bei der Arbeit geholfen haben mit Schwielen an den Händen. Er wird die Synagogenschule besucht und später das Zimmermannshandwerk erlernt haben. Aber er wird sich auch im Hören auf Gottes Wort und im Gebet auf seine Aufgabe als Rabbi und Wanderprediger vorbereitet haben.

Trotzdem war der 12jährige Jesus nach dieser Geschichte nicht mehr das gleiche Kind, das mit den Eltern hinaufzog, um als Pilger in Jerusalem das Passah zu feiern. Lukas schreibt, dass Jesus zunahm an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott. Der Weg aus der Geborgenheit der Kindheit heraus hatte begonnen. Alle Menschen sollten von Gottes Liebe hören. Sie sollten von der Last des Bösen befreit und mit Gott versöhnt werden. Sie sollten durch ihn den Weg zum Ziel allen Lebens finden, ihre Heimat bei dem einen lebendigen Gott.

In Jesus ist aus einem fernen Gott ein naher Gott geworden, ein Gott, der unsere Sorgen kennt und der unsere Schmerzen durchlitten hat.

Es gibt zahlreiche Menschen in unserem Land, die in diesen Tagen und Wochen Angst haben vor einer ungewissen Zukunft. Wie wird es weitergehen mit der Corona Krankheit und ihren vielfältigen Auswirkungen auf unser Leben?

Aber Angst ist ein schlechter Berater. Und bei allen Sorgen, die wir uns machen, sollten wir daran denken: Unsere Zukunft liegt in Gottes guten Vaterhänden. Seine Heilszeit hat mit der Geburt des Kindes im Stall bereits begonnen und das Rad der Zeit lässt sich nicht wieder zurückdrehen. Allerdings wird sich unser christlicher Glaube in der Zukunft umso mehr bewähren müssen. Und das geschieht dann, wenn wir unsere christlichen Werte auch in die Tat umsetzen: Liebe deine Mitmenschen wie dich selbst. Und, was ihr getan habt …

In Jesus ist Gott den Weg der Liebe gegangen und er lädt uns ein, ihm auf diesem Weg nachzufolgen, dass auch wir unser Leben in den Dienst der Liebe stellen, in Zeit und Ewigkeit. Amen.

Pfarrer Rainer Janus

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