Wort zum Sonntag – 01. November 2020

In seiner Bergpredigt spricht Jesus davon, wie Gottes Liebe unser menschliches Miteinander zum Guten verändert.

Er sagt: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.

Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.

Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ (Matthäus 5, 38-48)

Jesus wurde von den Leuten Rabbi genannt, das heißt Lehrer. Und Jesus war sicherlich ein außergewöhnlicher Lehrer. Lehrer sein, das war für ihn Berufung, nicht nur ein Job. Er stand mit seiner Person - und mit seinem ganzen Leben - dafür ein, was er die Menschen lehrte, und das war eben mehr als Rechnen und Schreiben. Er hat den Menschen das Denken nicht abgenommen, sondern sie immer wieder schonungslos mit den elementaren Wirklichkeiten des Lebens konfrontiert hat. Denn, wer bei ihm Schüler war, der sollte die Prüfungen des Lebens bestehen. Und solche Prüfungen gab es damals genauso wie heute. Die Zeit, in die Jesus hineingeboren wurde, war nicht besser als die Zeit, in die wir hinein geboren wurden. Soziale Ungerechtigkeiten sicherten auch damals den Wohlstand von Wenigen, auf Kosten einer großen Schar von armen Leuten.

Diese Armen waren außerdem der Willkür der römischen Besatzungsmacht schutzlos ausgeliefert. Kein Wunder also, dass Hass und Feindseligkeiten an der Tagesordnung waren. Viele Menschen resignierten damals aufgrund dieser bedrückenden Situation und fanden sich mit den Gegebenheiten mitunter zähneknirschend ab. Andere waren um keinen Preis bereit, auf ihr Recht und ihre Freiheit zu verzichten. Sie bewaffneten sich und führten - im Namen Gottes selbstverständlich - einen Guerillakrieg gegen die Römer und ihre Verbündeten aus dem eigenen Volk.

Jesus war kein derartiger Freiheitskämpfer. Er gehörte aber auch nicht zu denen, die resignierten: Er verhielt sich keineswegs passiv gegenüber Fremdheit und Feindlichkeit unter den Menschen. Im Gegenteil: Er hielt mit seiner Kritik an den Missständen und Ungerechtigkeiten nicht zurück und trat für Freiheit ein. Aber er wählte nicht den Weg der Gewalt. Jesus zeigte uns einen dritten, einen neuen Weg des Umgangs miteinander. Jesus geht den Weg der Liebe, damit aus Fremden Freunde werden.

Es konnte damals vorkommen, dass ein hochverschuldeter Tagelöhner bisweilen nur noch das besaß, was er auf dem Leibe trug: ein einfaches Untergewand und einen Mantel, mit dem er sich die Nacht über zudecken konnte. Nach dem biblischen Recht durfte dieser Mantel nicht verpfändet werden, oder musste dem Armen jedenfalls für die Dauer der Nacht zurückgegeben werden.

Jesus sagt: Wenn aber ein Mensch tatsächlich so lieblos ist, dass er dem armen Tagelöhner buchstäblich das letzte Hemd verpfänden will, dann soll der Taglöhner auf sein Armenrecht verzichten und ihm auch noch den Mantel lassen. Lieblosigkeit wird nicht dadurch überwunden, dass ich Gleiches mit Gleichem vergelte. Lieblosigkeit kann nur durch Liebe überwunden werden.

Ein anderes Beispiel: Es war an der Tagesordnung, dass die jüdische Bevölkerung von den Römern zu Diensten herangezogen wurde: So konnte es vorkommen, dass ein Einheimischer gezwungen wurde, einen Römer zu begleiten und ihm seine Lasten zu tragen. Jesus sagt: Wenn dich jemand zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, so gehe mit ihm zwei. Fremdheit wird nicht dadurch überwunden, dass ich Gleiches mit Gleichem vergelte. Fremdheit wird nur durch Freundlichkeit überwunden.

Ein drittes Beispiel: Auf die rechte Backe kann man jemanden eigentlich nur mit dem Handrücken schlagen. Das galt als besonders demütigend und kostete die doppelte Summe an Wiedergutmachung wie bei einer gewöhnlichen Ohrfeige. Jesus sagt: Wenn dich jemand zu Unrecht demütigt, dann sollst du nicht nur auf die Wiedergutmachung verzichten: Halte ihm auch noch die linke Backe hin. Gewalt wird nicht dadurch überwunden, dass ich Gleiches mit Gleichem vergelte. Gewalt wird nur durch Besonnenheit überwunden. Jesus traut allen Menschen - auch Armen und Schwachen - zu, dass sie den Teufelskreis von Fremdheit, Lieblosigkeit, Feindseligkeit, Hass und Gewalt durchbrechen, durch ein Zeichen der Liebe. Er traut uns zu, den ersten Schritt zu tun, auf den Lieblosen zu, der möglicherweise einmal so bitter enttäuscht wurde, dass er seitdem nicht mehr zu lieben wagt.

Was hast du zu verlieren? Deinen Mantel zum Zudecken? Eine halbe Stunde Fußmarsch? Vielleicht riskierst du eine Ohrfeige. Gewinnen aber kannst du einen Mitmenschen, vielleicht sogar einen Freund.

Napoleon soll im Rückblick auf seine militärischen Erfolge einmal gesagt haben: „Alexander, Caesar, Karl der Große und ich haben große Reiche errichtet. Aber worauf gründeten sie sich? Auf Macht! Christus aber hat ein Reich errichtet, das sich auf die Liebe gründet, und noch heute sind Millionen bereit, für ihn zu sterben!“ Ich weiß nicht, ob Napoleon das wirklich so gesagt hat, oder ob man ihm diese Aussage nur in den Mund gelegt hat. Aber es ist richtig: Mächtige Weltreiche sind vergangen, das Reich Christi ist nach mehr als 2000 Jahren noch immer am Wachsen. Und das, obwohl wir als Christen oft meilenweit von dem entfernt sind, was Jesus uns gelehrt hat. Ich denke da auch an die Religions- und sonstigen Kriege, an Hexenverbrennungen, Kreuzzüge und innerkirchlichen Streitereien. Das alles ist sicherlich kein Ruhmesblatt für uns, die wir uns nach seinem Namen Christen nennen.

Aber das, was Jesus mit seinem Wort und seiner Lehre angestoßen hat, das ist nicht etwa weltfremd, sondern wirkt in der Weltgeschichte fort. Und es bewahrheitet sich in der persönlichen Lebensgeschichte von Menschen. Immer wieder neu siegt die Ohnmacht der Liebe über die Macht von Hass und Gewalt.

„Wer ist der größte Held?“ lautet eine Frage in der jüdischen Weisheit. Und die Antwort lautet: „Der, welcher seinen Feind zu seinem Freund macht.“

Liebe ist mehr als ein geduldiges Ertragen. Liebe heißt, heute noch den wichtigen und entscheidenden Schritt zur Versöhnung zu wagen. Liebe heißt, um des Friedens willen, über den eigenen Schatten zu springen.

Wie gesagt, Jesus war ein Rabbi, ein Lehrer der Menschheit. Er verordnet nicht, er befiehlt nicht, er lädt ein. Seine Worte beschäftigen uns noch nach zwei Jahrtausenden und seine Fragen lassen uns nicht los. Wir spüren und ahnen: Seine Liebe ist das Geheimnis. Seine Liebe bringt Heil und Hoffnung in unsere Welt. Mit seiner Liebe in unseren Herzen werden wir die Prüfungen dieses Lebens bestehen.

Keiner von uns weiß in diesen schweren Zeiten, was die Zukunft uns bringen wird, aber eines wissen wir, das hat er uns bei unserer Taufe versprochen: In guten wie in bösen Tagen wird er unser Freund und Begleiter sein bis an der Welt Ende. Amen

Pfarrer Rainer Janus

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