Wort zum Reformationstag – 31.1.2021

Im ersten Petrusbrief heißt es:

Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist, und das mit Sanftmut und Ehrfurcht, und habt ein gutes Gewissen. (1. Petrus 3, 15b.16a)

Wir feiern den Gedenktag der Reformation am 31. Oktober in der Erinnerung an den Thesenanschlag Martin Luthers an der Tür zur Schlosskirche in Wittenberg. Es war mutig von dem Mönch aus Wittenberg die Lehre der weltweit mächtigsten Organisation seiner Zeit in Frage zu stellen – und das ausgerechnet da, wo es finanziell interessant war. Der Ablasshandel war lukrativ. Auf diese Geschäftsidee, Sündenvergebung für Geld zu verkaufen, da muss erst einmal einer draufkommen – und die Leute kauften diese Ablassbriefe, nachdem man ihnen vorher genug Angst eingepredigt hatte, vor den Höllenqualen, die sie erleiden sollten.

Ja, Martin Luther hatte recht, über diese abwegige und zutiefst unbiblische Lehre in einen gelehrten Disput mit seiner Kirche eintreten zu wollen, mit dem Ziel das Glaubensleben neu am Wort Gottes zu orientieren. Und dass die Hammerschläge an der Schlosskirchentür zu Wittenberg wie Donnerschläge durch Europa schallten, zeigte, dass der Mönch insofern einen wunden Punkt getroffen hat, als eben die Geldgier, die Habgier und die Machtgier sich breit gemacht hatten in der ehrwürdigen Hierarchie der Kirche Jesu Christi.

Vielleicht hätte man aber auch ein anderes Datum wählen können, nämlich den 18. April als Gedenktag der Reformation. Und vielleicht war der 18. April 1521 noch wichtiger für die Bewegung, die wir Reformation nennen, als der berühmte Thesenanschlag am 31. Oktober 1517. Am 18. April 1521 stand der Mönch aus Wittenberg vor dem Reichstag in Worms und sollte vor der versammelten weltlichen Macht seine Schriften widerrufen. 500 Jahre liegt das zurück und es ist eine besondere und ganz einmalige Stunde der Weltgeschichte, in der ein Mensch in der Berufung auf das Gewissen sich nicht beugen lässt von der Macht der Mächtigen. Der Mönch aus Wittenberg widerruft seine Schriften nicht.

Der erwählte Kaiser Karl V war 1520 als Nachfolger seines Großvaters Maximilian I zum römisch-deutschen König gekrönt worden. Der junge Spanier aus den Niederlanden, wollte seine Macht, bzw. die Macht des Hauses Habsburg, gegenüber den deutschen Fürsten und Reichsständen stärken und ausbauen. Darum war ihm die Einheit der Kirche so wichtig. Darum wollte er diese Kirche, wie sie ist, verteidigen. Darum sollte dieser kleine, lästige Mönch nichts anderes tun als widerrufen.

Aber die Stimmung im Volk war eine andere. Der päpstliche Gesandte Hieronymus Aleander beschreibt sie als antipäpstlich und prolutherisch. Und auch die Stimmung unter den Fürsten und Reichsständen war eine andere. Sie strebten selbstbewusst nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Sie wollten dem Hegemoniestreben des Hauses Habsburg keineswegs Vorschub leisten. Im Vergleich zu den Donnerschlägen des Thesenanschlags in Wittenberg war die Widerrufsverweigerung vor dem Reichstag zu Worm ein Erdbeben, das die Säulen des mittelalterlichen Machtgefüges ins Wanken brachte, und das zugleich ein neues Zeitalter eingeläutet hat, die Zeit der Aufklärung und der Moderne. Der Kaiser, von dem es heißt, dass in seinem Reich die Sonne nicht untergehe, weil er auch König von Peru und Neuspanien war, hat dann im Alter von 55 Jahren schließlich resigniert und hat tatsächlich abgedankt.

Auf die abschließende Frage des Verhandlungsführers Johann von Eck, ob er nun widerrufen werde, antwortete Luther: „Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“

Am Gewissen eines Einzelnen beißt sich die Macht ihre Zähne aus. Und von dieser Stunde an beginnt der Kampf um die Freiheit des Gewissens, die so viele andere Freiheiten nach sich zieht: die Freiheit des Glaubens, die freie Meinungsäußerung, die Versammlungsfreiheit, der Schutz der allgemeinen Menschenrechte, die Achtung der Menschenwürde, das Recht auf Asyl und der Schutz der Privatsphäre.

Das Gewissen ist eine Instanz in unserem menschlichen Bewusstsein, das uns hilft, zu beurteilen, ob eine Handlungsweise richtig ist, oder nicht. Es ist ein allgemeines, intuitives Wissen über das, was ethisch und moralisch verantwortbar oder böse ist und schadet.

Aber das Gewissen hängt nicht frei in der Luft. Das Gewissen braucht eine ethische Orientierung, die hilft Gut und Böse zu unterscheiden. Ganz am Anfang der Bibel ist davon die Rede, dass die Menschen den Unterschied zwischen Gut und Böse kennenlernen. Adam und Eva handeln gegen Gottes Willen. Sie lassen sich verführen. Und sie finden sich schließlich außerhalb des Paradieses in der harten Wirklichkeit des Lebens wieder.

Und Martin Luther steht ganz in dieser biblischen Tradition. Sein Gewissen ist rückgebunden an das Wort und den Willen Gottes – und an die Vernunft. Luther sagt: Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, dann kann und will ich nicht widerrufen. Glaube und Vernunft sind für Luther keineswegs unvereinbare Gegensätze, wie das heute manchmal gedacht oder unterstellt wird. Auch die Vernunft ist eine gute Gabe Gottes. Und wir brauchen die Vernunft, um Gottes Wort und Willen zu verstehen und danach zu handeln.

Es geht schon bei Martin Luther nicht um einzelne Schriftworte, die möglicherweise auch noch aus dem Zusammenhang gerissen werden. Es geht um den Sinn der ganzen Schrift, die uns den Willen Gottes erschließt.

Natürlich kannte Luther das 13. Kapitel des Römerbriefes, wo der Apostel Paulus unmissverständlich schreibt, dass jedermann der Obrigkeit untertan sei, denn alle Obrigkeit ist von Gott eingesetzt. Dennoch ordnet er sich dem Willen der Obrigkeit nicht unter. Wie einst Petrus vor dem Hohen Rat, sagt er: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Nachzulesen in der Apostelgeschichte des Lukas im 5. Kapitel.

Martin Luther hatte ein reiches Gebetsleben. Immer wieder hat er mit Gott gerungen, um die richtige Entscheidung zu treffen und den richtigen Weg zu finden. Leider war auch Luther nicht perfekt. Auch er hatte Schwächen und schwache Stunden. Und vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er einige von seinen Schriften tatsächlich widerrufen hätte, mit denen er viel Unheil angerichtet hat. Ich denke dabei an die Schriften wider die Juden und wider die Bauern. Da hätte er irgendwann einmal sagen müssen: Ich habe mich geirrt, die Hetze wider die Juden und die Bauern entsprechen nicht dem Willen Gottes. Oder er hätte solches gar nicht schreiben und drucken - und nicht einmal denken sollen.

Von Luthers Berufung auf das Gewissen 1521 gibt es eine direkte Linie zur badischen Union 1821. Denn ohne die Freiheit des Gewissens und des Glaubens, die Menschen in Luthers Fußstapfen im Geist der Aufklärung in 3 Jahrhunderten erstritten haben, wäre eine Union und eine Überwindung des Streits um das Abendmahls nicht denkbar, nicht möglich gewesen.

Zwischen Lutheranern und Reformierten schwelte über Jahrhunderte der Streit um das rechte Verständnis der Gegenwart Christi beim Abendmahl. Schon die Reformatoren Martin Luther und Ulrich Zwingli konnten keine Einigung finden. Für Luther war Christus in, mit und unter den Elementen Brot und Wein gegenwärtig. Die Reformierten mit Zwingli an der Spitze sagten: Brot und Wein sind und bleiben Brot und Wein, sie sind lediglich Zeichen für die Gegenwart Christi.

Vielleicht erscheint das manchem wie der Streit der Gelehrten um des Kaisers Bart. Und vielleicht hätten die Kontrahenten auch daran denken können, dass der, um dessen Gegenwart sie stritten, ihnen gesagt hatte: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. Wie er das macht, mitten unter uns zu sein, das hat er nicht gesagt, vielleicht, um sich alle Möglichkeiten offen zu halten.

Nun gab es aber damals vor 200 Jahren Menschen, die waren der Meinung: Das kann doch nicht sein und auf keinen Fall so bleiben, dass Christen sich streiten und uneins sind. Es geht im christlichen Glauben um die Liebe. Und im Geist dieser Liebe müsste doch eine Verständigung über Lehrmeinungen hinweg möglich sein. Wahrscheinlich ist das eine tiefe Wahrheit und auch wir sollten auf dem Weg der Ökumene nicht stehenbleiben und keine Rückschritte zulassen. Damals und heute brauchen wir Mut und Willen zur Einheit.

Gesagt getan. Man berief im Jahr 1821 eine Generalsynode ein und setzte eine Unionsurkunde auf und schon im Juli desselben Jahres waren aus zwei Kirchen eine geworden. Die Lösung, was die Unterschiede in der Lehre betraf, war typisch badisch. Man ließ einfach beide Meinungen gelten und jeder sollte mit seinem Verständnis zum Tisch des Herrn kommen. Freiheit des Gewissens nannte man das damals, heute würden wir vielleicht von Toleranz sprechen.

Vielleicht kann dieses alte badische Modell einer Union noch heute Schule machen: Die Meinung des anderen stehen lassen – und trotzdem einig werden. Das muss nicht nur Kirchen betreffen, das könnte auch im wirklichen Leben eine ernstzunehmende Option sein: Im Geist der Liebe zueinander finden. Nicht das Trennende, sondern das Verbindende betonen. Die Weichen schon im Vorhinein auf den Kurs der Versöhnung stellen.

Bei all dem, kann es nicht darum gehen, sich auf einem guten Gewissen auszuruhen, wie auf einem sanften Ruhekissen, sondern das Gewissen zu schärfen und wach zu halten, durch Gottes Wort, durch ein reiches, verantwortliches Gebetsleben und durch das Maß an menschlicher Vernunft, das der Schöpfer uns mitgegeben hat. Es wäre falsch und dumm, das nicht bewahren und fortzuführen, was Menschen wie Luther errungen haben. Die Reformation geht weiter. Sie darf nicht stillstehen, bis wir alle eins werden und Frieden finden.

Wir dürfen der Kirche heute ein Gesicht geben und in der Gemeinschaft Jesu Christi, dem Reich Gottes entgegenstreben, wo dereinst dann alle Geschöpfe zu ihrem Recht kommen durch den Geist der Liebe unseres Gottes, allein durch seine Gnade und Barmherzigkeit. Amen.

Ihr Pfarrer Rainer Janus