Wort zum ersten Advent 2021
Der Prophet Jeremia kündigt an:
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen.
Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR ist unsere Gerechtigkeit«.
Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«, sondern: »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen. (Jeremia 23, 5-8)
„Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.“ Die Zeilen dieses Liedes stammen aus dem Jahr 1938. Der Liederdichter, Jochen Klepper, war verheiratet mit einer jüdischen Frau und ahnte vielleicht schon etwas davon wie finster die Zeiten unter Hitler und den Nationalsozialisten noch werden sollten. 1939, ein Jahr später, begann der Krieg, der zusammen mit Judenverfolgung, Rassismus und Arierwahn unsägliches Leid und millionenfachen Tod über die Welt gebracht hat.
Wann ist ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen? Wann ist das Ende des Tunnels erreicht? So fragen Menschen auch heute in dieser pandemischen Notlage, in der täglich neuen Rekorde gemeldet werden, was die Zahlen der Erkrankten und der Toten betrifft. Wann können wir wieder normal miteinander umgehen, normal und ohne Ängste unsere Kontakte pflegen? Die ehemals so vollmundigen Versprechen der Politiker verstummen mehr und mehr. Rufe nach schärferen Maßnahmen werden hörbar. Die Experten zeichnen unisono ein düsteres Bild - und hinterlassen Ratlosigkeit. Die Lage spitzt sich zu.
Auch die Propheten Israels, darunter Jeremia, wurden gefragt, wann das Leid, das in jener Zeit über Gottes Volk hereingebrochen war, ein Ende haben würde. Wann würden die Menschen in ihrer Heimat wieder gut und sicher leben können? Wann würde wieder Frieden und Gerechtigkeit herrschen?
Jeremia und die anderen Propheten sprechen immer wieder von einem neuen Spross aus altem Holz, der eine neue Zukunft symbolisiert. Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen.
Was die Menschen damals in diesen Zeilen gehört haben, ohne dass es Jeremia ausspricht, ist eine harte Kritik an den Herrschenden und Mächtigen seiner Zeit: Ihr, die ihr auf dem Thron Davids sitzt und angebt, gute Hirten zu sein, ihr habt das Unrecht und Leid dieses Volkes durch euer Tun erst herbeigeführt! Ihr und nicht Gott habt die Schafe seiner Herde verstreut. Ihr, nicht Gott, seid verantwortlich für das unheilvolle Ergehen im Land. Wie ein Baum muss der große Stamm Davids erst gefällt werden, damit aus seiner Wurzel ein Spross – ein neuer, kleiner frischer, unverbrauchter Zweig hervorspringen kann.
Jeremia hat einige Kapitel vorher beschrieben, wieviel Unrecht geschieht und die Reichen und Mächtigen angeklagt: „Wehe dem, der sein Haus mit Ungerechtigkeit errichtet und seine Gemächer mit Unrecht ausstattet, der seine nächsten Mitmenschen umsonst arbeiten lässt und ihnen ihren Lohn vorenthält, der sich denkt: „Wohlan, ich will mir ein großes Haus bauen und weite Gemächer“, der sich viele Fenster einsetzen lässt und seinen Palast mit Zedernholz vertäfelt und ihn rot streichen lässt…“
Der Prophet klagt unrechtmäßige Gewinne an, kritisiert den Luxus der Reichen, weil daneben die Armen, die Rechtlosen, die Witwen und Waisen, die Fremden und Migranten verarmen und untergehen. Es scheint wie immer das gleiche Lied zu sein: dass die Reichen sich auf Kosten der Armen bereichern, dass die abhängig Beschäftigten verlieren und die Großen und Mächtigen immer größer und mächtiger werden. Recht und Gerechtigkeit – das sind für Jeremia Verhaltensweisen, die das Gemeinwohl aller im Blick haben und nicht das Wohl einzelner Personen oder Gesellschaftsschichten. Keiner soll Hunger leiden oder benachteiligt werden.
Recht und Gerechtigkeit – in diesem alten Menschheitstraum hat in Israel jeder seinen eigenen Boden, sein heiliges, von Gott verliehenes Stück Land als Erbteil. Dieser Grund und Boden gehört Gott, er ist unverkäuflich, mit ihm kann nicht spekuliert werden, mit ihm ist jeder ein gleichberechtigter Bürger der Gemeinschaft. Und: Auf diesem Erbteil sollen die Menschen gut und sicher wohnen.
Jeremia erwartet, dass alle Verheißungen Gottes im vollem Umfang in Erfüllung gehen. Nicht nur Juda wird gerettet werden, sondern auch Israel soll sicher wohnen. Israel bezeichnet hier den Nordteil des Landes, der schon Generationen zuvor zerstört wurde. Die Einwohner wurden versklavt und in unterschiedliche Länder deportiert. Gott hat auch diesen Teil seines Volkes nicht aufgegeben. Das Land, das den Vätern verheißen wurde, soll den Kindern Israels und Judas, ein gutes Auskommen sichern, soll ihre Lebensgrundlage sein.
Aber das Volk, das Gott einst aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat und ins Land der Verheißung geführt hat, hat diese Verheißungen wohl vergessen. Oder die Menschen nehmen sie nicht ernst. Und aus den befreiten Sklaven von einst, sind selbst Sklavenhalter geworden, die sich um Gerechtigkeit und Recht im Sinne Gottes nicht scheren. Das schlimme Schicksal des Krieges, der Zerstörung und der Kriegsgefangenschaft scheint die Strafe Gottes zu sein. Aber in und durch die Strafe wird Gottes Heilshandel von neuem offenbar. Jeremia kündigt an: «. Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«, sondern: »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.«
Verheißen wird ein neuer Exodus, der den alten überstrahlt – es gibt einen neuen Anfang, verbunden mit einer neuen Landverheißung, und eine Neuverteilung von Grund und Boden – jeder erhält sein eigenes von Gott geschenktes Erbteil.
„So war der Herr lebt“ – In dieser immer wiederkehrenden Wendung des Prophetenwortes zeigt sich, um wen es geht im alten Land mit neuer Gerechtigkeit: Es geht um Gott selbst: An Gott liegen Recht und Gerechtigkeit, ihm ist diese Durchsetzung wichtig. Der Glaube an diesen Gott braucht Recht und Gerechtigkeit – ohne sie wird er leer und hohl.
Verheißen wir auch ein König, dessen Name ein Regierungsprogramm ist: Der Spross aus dem Geschlecht Davids soll „Der HERR ist unsere Gerechtigkeit“ heißen. Nicht die Person des Königs, sondern Gott selbst steht im Vordergrund.
Als Jesus in Jerusalem einzieht und die Menschen ihm zujubeln, ist eine Erwartung in der Luft, die mit geprägt ist durch unser Prophetenwort: Die Menschen fragten: Ist das jetzt der Spross Davids? Erscheint mit ihm Gott selbst? Erfüllt sich mit Jesus das alte Prophetenwort des Jeremia?
Tatsächlich verkündigt Jesus Gott als den liebenden Vater, der sich den Armen und Verachteten zukehrt und der Recht und Gerechtigkeit aufrichten wird. Aber noch immer herrschen Unrecht und Ungerechtigkeit in dieser Welt. Krieg und Gewalt nehmen auch zwei Jahrtausende nach Christus kein Ende, werden immer schlimmer.
Der Prophet Jeremia sagt: Den Verheißungen Gottes könnt ihr dennoch trauen. Er wird sie erfüllen, in vollem Umfang. Der Liederdichter Jochen Klepper schreibt: „Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.“
Der Spross der Gerechtigkeit wächst im Glauben an Gott, aber es ist ein Spross, der nicht eine Lösung schafft, sondern unsere Sehnsucht nährt, der unsere Erwartungen stärkt und uns Hoffnung macht, damit wir heute den Weg der Gerechtigkeit suchen, bis Gott am Ende alle seine Verheißung erfüllt und als gerechter Richter sein Reich aufrichtet. Die Tag wird kommen. Amen
Ihr Pfarrer Rainer Janus