Wort zum Buß- und Bettag
Der Prophet Jesaja soll Gottes auserwähltes Volk eindrücklich vor dem Zorn Gottes warnen: Im ersten Kapitel seines Prophetenbuches heißt es:
Höret des HERRN Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra!
Was soll mir die Menge eurer Opfer?, spricht der HERR. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke.
Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor meinem Angesicht – wer fordert denn von euch, dass ihr meine Vorhöfe zertretet?
Bringt nicht mehr dar so vergebliche Speisopfer! Das Räucherwerk ist mir ein Gräuel! Neumond und Sabbat, den Ruf zur Versammlung – Frevel und Festversammlung – ich mag es nicht! Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahresfesten; sie sind mir eine Last, ich bin's müde, sie zu tragen.
Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut.
Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen. Lasst ab vom Bösen, lernt Gutes tun! Trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!
So kommt denn und lasst uns miteinander rechten, spricht der HERR. Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist wie Purpur, soll sie doch wie Wolle werden. (Jesaja 1, 10-18)
Abraham, der Stammvater Israels, versuchte dereinst mit Gott zu handeln und ihn umzustimmen. Er appellierte an seine Barmherzigkeit: Gott möge die Menschen in Sodom und Gomorra vor der Vernichtung bewahren, wenn auch nur 50 Gerechte darunter wären, die Gott nicht vergessen haben.
Gott ließ sich bewegen und sprach: Finde ich 50 Gerechte, so will ich um ihretwillen allen vergeben.
Abraham fuhr fort zu handeln: Und wenn es nur 45 sein sollten! Und Gott antwortete und sprach: Finde ich 45 Gerechte, so will ich Sodom und Gomorra nicht verderben.
Abraham ließ nicht locker: Wenn es nur 30, nur 20 oder nur 10 wären. Und Gott sprach: Auch wenn sich nur 10 Gerechte finden, so will ich sie verschonen.
Verschont wurden, nach biblischer Überlieferung, nur Lot, der Neffe Abrahams und seine beiden Töchter. Alle übrigen Einwohner der beiden Städte hatten Gott vergessen und mitsamt ihrem gottvergessenen Lebenswandel wurden sie vernichtet vom Zorn Gottes.
Gott vergessen hatten auch die Einwohner von Jerusalem und Juda. Ihr Glaube war verkümmert zu einer religiösen Pflichterfüllung. Ihr schlechtes Gewissen - soweit überhaupt noch ein Bewusstsein für Unrecht und Gottlosigkeit vorhanden war - ihr schlechtes Gewissen versuchten sie durch Opfergaben zu beruhigen. In dieser Situation erinnert der Prophet Jesaja an die Geschichte von Sodom und Gomorra und an den Zorn Gottes: „Höret des HERRN Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra!“
Was hatte der Prophet zu verkünden? Was hatte er denen zu sagen, die Gottes Volk sein wollten und glaubten, sie könnten Gottes Gnade durch Opfer erkaufen? Das Wort des Propheten ist ein Ruf zur Um-kehr.
Gottes Geduld ist am Ende. Hände, an denen Blut klebt, werden vergebens zum Gebet erhoben.
Wer das Recht mit Füßen tritt, der hat im Vorhof des Tempels nichts verloren.
Wer lebt und nur noch nach seinem eigenen Vorteil schaut und Gott und seine Mitmenschen aus den Augen verliert, den mag auch Gott nicht mehr sehen!
Der Weg zurück zu Gott führt über die Einsicht der eigenen Gottlosigkeit. Nur wer erkennt, dass er auf dem falschen Weg ist, kann bereuen und umkehren und wie der verlorene Sohn aus dem Gleichnis Jesu sprechen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.
Gott lässt sich bitten, er lässt sich umstimmen. Diese Erfahrung schwingt schon mit in der alten Überlieferung von Sodom und Gomorra. Abraham hat es erfahren: Gott stellt die Barmherzigkeit über die Gerechtigkeit. Er ist der liebende Vater, der dem mit offenen Armen entgegeneilt, der sich selbst überwindet und den Weg der Umkehr geht.
Dazu jedoch waren die Zuhörer des Propheten Jesaja jedoch nicht bereit. Am Horizont der Geschichte zeichnete sich bereits die politische Konstellation ab, die zur völligen Zerstörung Jerusalems und zur Ver-wüstung des Landes Juda führte. Und der Ruf zur Umkehr fand kein Gehör. Erst nach der Katastrophe wurde die Vernichtung der Stadt und des Tempels als Zeichen für den Zorn Gottes verstanden.
Gottes Zorn bringt Tod und Zerstörung. Aber manchmal muss die Liebe ungewöhnliche Wege gehen, um das Gute zu erreichen. Manchmal muss sie hart sein, um zu retten. Das gilt auch für die Liebe Gottes zu seinem Volk.
Denn das Volk, das Gott zu seinem Volk erwählt hat und liebt, ist nicht ehrlich. Sie kommen oft in den Tempel, beten viel und bringen reichlich Opfer, um ihrer religiösen Pflicht zu genügen und Gott günstig zu stimmen. Aber in ihrem Alltag, da leben sie nur für ihren persönlichen Vorteil, da herrscht das Unrecht, da bleiben die Schwachen als Opfer auf der Strecke.
Gott werden im Tempel Tier - Opfer gebracht, um ihn zu besänftigen, damit er sich mit den Menschen - Opfern im Alltag abfindet. Gott ist enttäuscht über die Unehrlichkeit, aber er kämpft um sein Volk, er kämpft für seine Liebe. Und darum - um der Liebe zu seinem Volk willen - zerschlägt Gott mit Gewalt die falsche Sicherheit, in der die Menschen sich wiegen.
Dass hinter der Konfrontation Gottes mit seinem Volk seine Liebe verborgen ist, das empfinde ich als sehr tröstlich, auch für uns heute. Denn auch wir bedürfen seines Kampfes um uns - sicher nicht weniger als sein auserwähltes Volk damals. Im Bereich der persönlichen Lebensgestaltung hat der Glaube seinen Ort, aber in vielen anderen Bereichen: in der Schule, in Ausbildung und Berufsleben, in der Politik gelten andere Gesetze und Normen -und beides halten wir meistens ziemlich strikt auseinander.
Zu dem „Blut an unseren Händen“ zähle ich den Umgang mit Fremden in unserem Land. Und ich erinnere an die ausländerfeindlichen Übergriffe rechter Gruppen. Aber ich erinnere auch an unsere gesamteuropäische Politik und Gesetzgebung in Bezug auf Menschen, die bei uns Schutz vor Verfolgung suchen.
Viele Christen schweigen dazu. Weil es bequemer ist, weil sie gar nicht wissen, wo sie beginnen sollen, oder weil sie müde geworden sind, mutlos und ohne Vertrauen, dass wir etwas an dem Unrecht ändern können, ohne Hoffnung darauf, dass irgendjemand daran etwas ändern kann und will.
Gott aber schweigt nicht. Seine Aufforderung an das Volk damals ist bis heute nicht eingelöst und hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.
„Lasst ab vom Bösen, lernt Gutes tun! Trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!“ Wo uns die Kraft fehlt, gegen das Unrecht öffentlichen Wider-stand einzulegen und Unrecht zu wenden, da sollten wir wenigstens die Hände falten und dies im Gebet Gott sagen, nicht nur am Buß- und Bettag.
Während der Prophet Jesaja im Alten Testament vom Ende der Geduld und vom Zorn Gottes spricht, redet das Neue Testament von der Gnade Gottes. Die Zeit ist nicht stehengeblieben. Die Geschichte ist weiter gegangen. Gott hat sich bewegen lassen. Seine Barmherzigkeit ist größer als seine Gerechtigkeit.
Zehn Gerechte hätten damals zur Zeit Abrahams die Menschen in Sodom und Gomorra vor der Vernichtung bewahrt. Gott lässt nun Gnade walten über die ganze Welt um eines einzigen Gerechten willen: Jesus Christus, der für unsere Gottergebenheit am Kreuz gestorben ist. Er ist unsere Hoffnung. Amen.
Pfarrer Rainer Janus