Wort zum 1. Sonntag nach Epiphanias

Im Buch des Propheten Jesaja lesen wir:

Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat.

Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen.

Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.

In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung.

So spricht Gott, der HERR, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Atem gibt und Lebensodem denen, die auf ihr gehen: Ich, der HERR, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.

Ich, der HERR, das ist mein Name, ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen. Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es sprosst, lasse ich's euch hören. (Jesaja 42, 1-9)

Immer noch und immer wieder rätseln die Hörer oder Leser dieses Prophetenworts, von wem hier die Rede ist. Wer mag dieser Knecht sein, der seltsamerweise zugleich auch als Auserwählter bezeichnet wird.

Das hebräische Wort für Knecht bezeichnet auch einen Sklaven, einen rechtlosen Leibeigenen am untersten Rand der Gesellschaft. Nur große und reiche Herren leisteten sich Knechte im Sinne einer wohlgepflegten Dienerschaft. Aber wie kann so ein Knecht gleichzeitig ein Auserwählter sein, einer, der zu etwas Großem bestimmt ist, und der damit Herz und Seele Gottes erfreut?

In der Septuaginta, der antiken Übersetzung des Alten Testaments von der hebräischen in die griechische Sprache findet sich denn auch eine Erklärung. Die 70 Gelehrten, die der Legende nach die Übersetzung gefertigt haben, fügten an dieser Stelle die Namen Jakob und Israel ein. „Jakob, mein Knecht, den ich halte, und Israel, mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat.“

Nach dieser Deutung ist hier also nicht ein einzelner Gottesknecht gemeint. Jakob und Israel stehen für das auserwählte Gottesvolk. Und das bedeutet, dass alle gemeinsam angesprochen und gemeint sind, die zum Volk Gottes gehören, allesamt Gottes Knechte, allesamt Gottes Auserwählte.

Wir würden in unserer heutigen Zeit eine solche deutende Übersetzung als schwierig und gar unredlich bewerten. Aber die Gelehrten damals hielten es für ihre Pflicht, Fragen zu klären, Spannungen auszugleichen, den Bibeltext lesbarer und verstehbarer zu machen. Und viele neuere Bibelübersetzungen heute haben auch diese Tendenz, dass sie den Text deutend oder erklärend in unsere heutige Sprache übertragen, um ihn einfach verständlicher zu machen. Man merkt das manchmal, wenn man die verschiedenen Bibelausgaben im Internet nebeneinander liest.

Auch die frühen Christen haben das Buch des Propheten Jesaja gelesen. Das alte Testament war ja auch ihre Heilige Schrift, die sie mit dem Judentum gemeinsam hatten. Und demgemäß hat sich das rätselhafte Wort vom Gottesknecht, der ja bei Jesaja gleich mehrmals vorkommt, auch im Neuen Testament niedergeschlagen. Das geschieht durch Anklänge in der Wortwahl, wie bei der Taufe Jesu oder der Verklärung, wo Gott sein Wohlgefallen ausspricht, aber auch ganz direkt im Matthäusevangelium, wo das Wort aus dem Buch des Propheten Jesaja wörtlich zitiert wird.

Im Unterschied zur Septuaginta wird die Prophezeiung im Neuen Testament stets auf Jesus Christus bezogen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. Für die Menschen, die Jesus kannten, war der Fall klar: Es war der Rabbi aus Nazareth, der die Liebe Gottes nicht nur predigte, sondern auch selbst liebevoll lebte.

Wen hat Gott auserwählt, seinen Willen zu tun? Wem hat Gott seinen Geist gegeben, den Geist des Friedens? Wer trägt sein Recht hinaus zu den Völkern, hin zu den letzten Inseln? Wen hat Gott bestimmt zum Bund für sein auserwähltes Volk und zum Licht für alle Völker? Wem hat er die Aufgabe zugedacht, den Blinden die Augen zu öffnen und die Gefangenen zu befreien?

Wenn dann an anderer Stelle noch davon die Rede ist, dass der Gottesknecht unsere Krankheit tragen und unsere Schmerzen leiden wird, lag für Christen die Antwort nahe: Das Kind in der Krippe, der Mann am Kreuz war gemeint. Sanftmütigkeit ist sein Gefährt. Er reitet auf einem Esel. Er heilt die Blinden. Er hat das Heilige Abendmahl eingesetzt als neuen Bund in seinem Blut. Er sagt von sich: Ich bin das Licht der Welt, das Licht für die Völker.

In der Apostelgeschichte berichtet der Evangelist Lukas von einem Afrikaner, der in Jerusalem war und dort eine Schriftrolle mit dem Buch des Propheten Jesaja gekauft hat. Er liest darin und er will natürlich wissen, wer mit diesem leidenden Gottesknecht gemeint sein könnte. Der Apostel Philippus erzählt ihm vom Leben und Sterben Jesu. Und nun hat der Afrikaner nur noch den einen Wunsch: Er will sich taufen lassen. Er will zur Gemeinschaft des Gottesknechtes Jesus Christus gehören.

Und vielleicht ist es das, was die Frage nach dem Knecht Gottes so spannend macht. Denn diese Frage scheint keine reine Wissensfrage zu sein. Seltsamerweise setzt sie eine Sehnsucht frei, bewirkt Veränderung, stärkt den Wunsch dazuzugehören.

Und vielleicht hatten die Gelehrten der Septuaginta nicht weniger recht als die Christen. Vielleicht ist Jesus so etwas wie ein Vorbild, der uns zeigt, wie wir alle gemeinsam als Gottes Knechte leben und seinen Willen erfüllen können. Und der uns alle gleichzeitig in dem Glauben stärkt, dass wir trotz allem von Gott auserwählt sind und er seinen Wohlgefallen an uns hat.

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. Behutsamkeit und Achtsamkeit für das Schwache finden wir bei Jesus, der von sich sagt: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Gehet aber hin und lernet, was das sei: "Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer."

Behutsamkeit und Achtsamkeit für das Schwache finden wir aber auch heute unter uns. Ich denke an die Fürsorge für andere, die die Coronawelle ausgelöst hat, die auch über lange Zeit anhält, wo sich Junge um Alte kümmern, wo schwache Schüler zusätzliche Angebote erhalten, oder ich denke an die Menschen, die sich trotz allem weiter um die Integration von geflüchteten und entwurzelten Menschen und Familien kümmern. Mit großer Freude habe ich in der Zeitung gelesen, dass das Netzwerk Solidarität in Friesenheim Weihnachtstüten für Flüchtlingskinder gepackt und verteilt hat, um ihnen ein wenig Weihnachtsfreude nahe zu bringen.

Es geht aber nicht um das Geschrei auf den Gassen und um medienwirksame Aktionen. Vieles kann und darf auch im Verborgenen geschehen, abseits der Öffentlichkeit. Recht und Gerechtigkeit werden nicht im Hauruckverfahren aufgerichtet. Sie müssen wachsen und sich ausbreiten, zuallererst in den Herzen der Menschen. Das ist der Weg der Liebe, die Unrecht und Gewalt überwindet und den Frieden schafft. Gott hat diesen Weg mit der Schöpfung allen Lebens begonnen, Er hat ihn fortgesetzt mit der Erwählung seines Volkes und in Jesus Christus ausgeweitet auf alle Völker. Und er wird den Weg der Liebe – gemeinsam mit uns allen – Schritt für Schritt weiter gehen bis in Ewigkeit. Amen

Ihr Pfarrer Rainer Janus