Buß- und Bettag

Jesus Christus spricht: Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.

Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind's, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind's, die ihn finden!

Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe.

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man denn Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.

Unter den Zuhörern der Bergpredigt Jesu waren auch Pharisäer und Schriftgelehrte, die sich auskannten mit dem Wort Gottes, wie es uns im Alten Testament überliefert ist. Aber genauso wie dem einfachen Volk, wird es ihnen schwer gefallen sein, den Willen Gottes auf den Punkt zu bringen.

Für den jüdischen Glauben gliedert sich der Teil der Bibel, den wir das Alte Testament nennen in Thora, Newiim und Chetuwim: Gesetz, Propheten und Schriften. Aber das Gesetz waren nicht allein die Zehn Gebote, das Judentum kennt daneben zahlreiche weitere Weisungen, insbesondere auch die Speisegebote. Und es ist nicht nur ein Prophetenbuch, das überliefert ist, und auch die Botschaft der übrigen Schriften ist von Vielfalt geprägt.

Der Evangelist Matthäus stellt Jesus als den Rabbi dar, der die gesamte Vielfalt der jüdischen Tradition aufnimmt und bündelt, der die ganze Fülle des Alten Testaments vereinigt und fortführt. Er ist nicht gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen, heißt es gleich am Anfang der Bergpredigt. Und als Jesus nach dem höchsten Gebot gefragt wird, fasst er das Gesetz und die Propheten im Doppelgebot der Liebe zusammen: Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst.

Und genau wie die Nächstenliebe ist die goldene Regel „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch!“ zu einem Markenzeichen des christlichen Glaubens und zur ethischen Grundlage christlichen Handelns geworden. Der große Philosoph der Aufklärung, Imanuel Kant, hat daraus den kategorischen Imperativ formuliert: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Und der Volksmund hat daraus ein griffiges Sprichwort gemacht: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.

Aber je kürzer und prägnanter die Formulierungen, umso deutlicher wird, dass sich Fülle und Vielfalt von Glauben und Leben nicht in kurz gefasste Handlungsanweisungen pressen lassen. Was Jesus uns als Zusammenfassung anbietet, ist mehr eine Art von Schlüssel, der uns hilft, die Fülle zu erfassen und zu verstehen. Und das Schöne und das Besondere ist: Jesus setzt positiv bei uns und bei unseren Wünschen und Vorstellungen an. Hier zeigt sich Gottes große Liebe zu seinen Geschöpfen. Wir dürfen das Leben genießen! Nur hat unser Genuss seine Grenze in den Bedürfnissen unserer Mitgeschöpfe. Wir können und wir dürfen nicht auf Kosten anderer leben.

Der Theologe und Urwaldarzt Albert Schweitzer hat seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben aus dem ganz einfachen Grundsatz abgeleitet: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Alles Leben, das von Gott geschaffen und geliebt ist, hat seine eigene unveräußerliche Würde, die nicht beschädigt werden darf.

Wie sehr die Ehrfurcht vor dem Leben verlorengegangen ist, zeigt das Flüchtlingselend unserer Tage. Menschen werden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Und auf ihrer Flucht geraten sie an skrupellose Verbrecher, die ihre Notlage ausnützen, bis sie im Auffanglager ausgeraubt und vergewaltigt werden, im Schlauchboot in Seenot geraten oder vor der polnischen Grenze hungern und frieren.

Und Jesus geht noch einen Schritt weiter. Er sagt: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Was einer tut oder unterlässt, das ermöglicht Rückschlüsse auf seine Lebenshaltung. Kann man denn Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? Und dennoch ist die Tatsache, dass ein guter Baum gute und ein schlechter Baum schlechte Früchte trägt, kein endgültiges Urteil. Denn Jesus spricht auch von der Freiheit des Menschen, sich zu entscheiden, auf dem Weg des Lebens.

Und genau das ist der Sinn des Buß- und Bettages, dass wir daran erinnert werden, den Weg der Umkehr zu gehen. Reue und Vergebung eröffnen einen neuen Weg in die Zukunft.

Das Bild vom breiten und vom schmalen Weg, wie es die Johannesdruckerei als Poster gedruckt hat, hängt schon seit vielen Jahren in meinem Arbeitszimmer. Eindrücklich wird gezeigt, wo die Wege hinführen, für die ich mich entscheide. Jesus spricht davon, dass ein jeder Baum, der keinen guten Früchte bringt, abgehauen und ins Feuer geworfen wird. So war es Brauch in der landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft jener Zeit.

Was das Bild nicht zeigt, ist das, was Jesus mit der Warnung vor den falschen Propheten sagt. Nämlich, dass ich die Chance eines neuen Anfangs habe, die er durch sein Kreuz eröffnet hat. Wenn ich den falschen Weg eingeschlagen habe, wenn ich mich habe verführen lassen, und wenn ich diese falsche Lebenshaltung erkenne und bereue, dann steht mir der Weg offen, der zum Ziel des Lebens führt. Die schmale Pforte ist nicht verschlossen, der schmale Weg ist nicht verbaut.

Ich persönlich meine, dass die Wegweisung Jesu, im Sinne der goldenen Regel zu leben, heutzutage immer mehr an Plausibilität gewinnt. Wir leiden in unserer Überflussgesellschaft unter den vielen, pausenlosen Angeboten. Immer neue Nachrichten, immer neue Bilder erschöpfen unsere Fähigkeit zu urteilsreifen Wahrnehmung. Wir ertrinken in der Vielfalt der Möglichkeiten. Und mitten im Strudel dieser Zeit wächst die Sehnsucht, nach Einfachheit und Klarheit. Vielleicht hat es auch etwas mit den Erfahrungen der Pandemie zu tun, dass Menschen in unserer Zeit neu zum Nachdenken kommen, dass sie Stille und Besinnung suchen, mitten im Rausch des Raffens und Gierens.

Die Verheißung jedenfalls, die Jesus den Menschen damals und auch uns heute macht, bleibt bestehen: Der Weg durch die schmale Pforte lohnt sich, auch wenn er mit steilen, mühevollen Strecken und mancherlei Verzicht verbunden ist, denn er führt zum Leben – in Ewigkeit. Amen.

 

Ihr Pfarrer Rainer Janus