Wort zum Sonntag – 05. September 2021

Das Bibelwort für den heutigen Sonntag steht im ersten Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde zu Thessaloniki. Von den vielen Briefen des Apostels ist es der allererste und zugleich das älteste Dokument im Neuen Testament.

Paulus hat sich da einige Gedanken gemacht. Er hat sich überlegt: Wie bleibt ein Mensch ganz und gesund, an Seele, Leib und Geist. Und - für Paulus war das nahezu dasselbe - wie bleibt auch eine christliche Gemeinde ganz und gesund.

Paulus fragt sich: Wie bleibt ein Mensch, was er immer schon ist, nämlich ein Ebenbild Gottes, würdig und wertgeachtet. Und wie bleibt eine Gemeinde, was sie immer schon ist: Ein Ort, an dem ich spüren kann, dass Gott nahe bei mir ist, ein Ort, an dem ich meine Seele in die Sonne halten kann.

Hören wir, was Paulus den Christen in Thessaloniki und uns allen geschrieben hat – und wenn Paulus wieder mal nur die Brüder anredet, so ist das dem Zeitgeist geschuldet. Die Schwestern sind auch gemeint. Paulus schreibt:

Wir ermahnen euch aber, liebe Brüder: Weist die Unordentlichen zurecht, tröstet die Kleinmütigen, tragt die Schwachen, seid geduldig gegen jedermann.

Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach untereinander und gegen jedermann.

Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch.

Den Geist dämpft nicht. Prophetische Rede verachtet nicht. Prüft aber alles, und das Gute behaltet. Meidet das Böse in jeder Gestalt.

Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus. Treu ist er, der euch ruft; er wird's auch tun. (1. Thess. 5, 14-24)

Aller Anfang ist schwer. So sagt es das Sprichwort. Und wie schwer ein so neuer Anfang sein kann, das haben die Männer und Frauen erfahren, die sich in der Stadt Thessaloniki zu einer ersten christlichen Gemeinde zusammengefunden haben. Sie kannten die Frohe Botschaft von Jesus Christus aus dem Munde der Apostel. Sie waren sozusagen Christen der ersten Stunde: Die erste christliche Gemeinde, die vom Apostel Paulus einen Brief erhalten hat.

Der Kreuzestod Jesu Christi lag kaum 15 Jahre zurück. Die Hoffnung auf seine Wiederkehr als Richter und Retter der Welt stand im Mittelpunkt ihres Glaubens, ihres Hoffens und ihres Handelns. Aber es zeigt sich bald, dass es etwas gibt, das viel schwerer ist als der Anfang, nämlich das Durchstehen, das Durchhalten im Laufe der Zeiten.

Wie viele Male beginnen wir Menschen etwas Neues mit gutem Mut und guten Vorsätzen - und scheitern doch, weil wir wieder unseren Gewohnheiten verfallen und unsere guten Vorsätze vergessen.

Eine Schülerin nimmt sich vor, im neuen Schuljahr ihr Verhalten zu verbessern. Kaum hat die Schule begonnen, sitzt sie wieder neben der alten Freundin, fängt an zu schwätzen und zu stören.

Ein Familienvater hat sich vorgenommen, sich mehr um die Familie und die Kinder zu kümmern. Anfangs gelingt das auch. Aber das Geschäft und das Vereinsleben lassen ihn nicht los. Schon bald geht es wieder im alten Trott. Die guten Vorsätze und die Begeisterung des Anfangs sind schnell vergessen.

Wer den Brief des Apostels an die Thessalonicher ganz liest, der findet darin seltsamerweise recht wenig von der Begeisterung des Anfangs. Zwar freut sich Paulus, wenn ihm zu Ohren kommt „wie ihr euch bekehrt habt zu Gott von den Abgöttern“, aber offenbar leben auch in Thessaloniki Menschen mit ihrem Hang zu den alten Gewohnheiten und mit ihrer typisch menschlichen Eigenschaft, der Vergesslichkeit.

Die Mahnungen, mit denen der Apostel sein Schreiben beschließt, das ist nicht der erhobene moralische Zeigefinger der Kirche, den es auch gibt, der aber nicht biblisch ist - diese Mahnungen des Apostels sind Mahnungen gegen die Vergesslichkeit.

Wir kennen die Geschichte von den zehn Aussätzigen, die von Jesus geheilt werden. Und es ist nur einer von Zehn, der kommt - und sein Leben ausbreitet vor Jesus - und ihm dankt. Einer, der offenbar nicht vergessen hat, wem er das Heil seines Leibes und seiner Seele zu verdanken hat.

Die frohe Botschaft hatten sie gehört. Die Taufe, den Zuspruch hatten sie empfangen - aber dann? Dann ist es den Christen in Thessaloniki so ergangen, wie es manchem heute auch ergeht. Die alten Gewohnheiten nagen an der Begeisterung des Anfangs. Der Glaube wird verdrängt von den Geschäften des Alltags. Wenig ist übrig geblieben von der Freude über Gottes Wort. Die Bibel steht im Bücherschrank. Den Dienst der Nächstenliebe, den sollen andere übernehmen.

Und je weiter der Gedanke an Gott und die Verantwortung für meine Mitmenschen in den Hintergrund treten, umso mehr fragt man sich: Zu was brauche ich Gemeinschaft? Was nützt mir das Gemeindeleben? Wozu bin ich noch in dieser Kirche?

Aber nun zurück zu unseren Brüdern und Schwestern in Thessaloniki. Unter ihnen gab es ganz unterschiedliche Arten von Schwierigkeiten mit dem Glaubensleben.

Aus den Worten des Apostels schließen wir, dass es unordentliche Leute gegeben hat; wahrscheinlich solche, die alles laufen ließen, wie es nun einmal lief, und es nicht der Mühe wert erachteten, sich um die Geschäfte des Alltags zu kümmern: Wozu noch Holz sammeln für den Winter oder sich den Kopf über die Aufgabenverteilung in der Gemeinde zerbrechen, wenn doch morgen alles zu Ende ist! Wenn morgen schon Christus wieder-kommt zur Erlösung der Welt.

Davon wiederum waren die „Kleinmütigen“ nun am allerwenigsten überzeugt. Ihnen wurde die Zeit lang bis zur Ankunft unseres Herrn Jesus Christus; ja; mehrten sich nicht die Zeichen, dass alles weitergehen werde wie eh und je?

Die „Schwachen“ mögen ihr Heil darin gesucht haben, sich von bewährten religiösen Praktiken nicht allzu weit zu entfernen: Besser als an die Freiheit hält man sich an Speise- und Fastengebote.

Wie man sieht, hat die christliche Gemeinde keine neuen Menschen hervorgebracht, die allem irdischen enthoben wären. Das Glaubensleben spielt sich im Alltag ab und muss sich im Alltag bewähren.

In der Kirche ist es ein Leichtes fromm zu sein und an Gott zu denken und ihn zu loben. Das gehört in der Kirche sozusagen zum guten Ton. Glauben leben heißt aber: draußen vor den Kirchentüren meine Glaubensüberzeugung nicht zu verstecken; draußen nicht ein anderer zu sein als drinnen.

Was mich am meisten ins Nachdenken gebracht hat, das ist der Hinweis, dass es da wohl auch Leute gegeben haben muss, die den Geist dämpfen wollten.

Das heißt: Einige hätten den Geist Jesu, den Geist Gottes, den Geist der Verwandlung, der Erneuerung am liebsten zurückgehalten und erstickt. Hätten ihn vergraben wollen in der Erde, wie jener Knecht den ihm anvertrauten Zentner vergrub (Matthäus 25,25), anstatt dass sie nach ihm begierig gewesen wären wie nach dem Schatz im Acker, der, einmal entdeckt, das Köstlichste von allem ist!

Die Mahnungen im Brief des Apostels erinnern ein wenig an eine besorgte Mutter, die ihr Kind zum ersten Mal ins Ferienlager schickt und es mit vor dem Abschied mit Verhaltensmaßregeln überhäuft. Das Kind kommt sich ganz entmündigt vor. Immer neue Sachen fallen ihr ein, worauf es achten und wovor es sich hüten soll. Und dennoch treffen alle Ermahnungen nicht das, was sie eigentlich sagen will. Ihre letzten Worte sind es, die alles verändern. Sie nimmt das Kind in den Arm und sagt: Weißt du, ich hab dich lieb. Jetzt können beide gut Abschied nehmen. Über der Zerrissenheit der Trennung bleibt das Gefühl, in Liebe verbunden zu sein.

Paulus mag es ähnlich ergangen sein. Zum Glück ist auch ihm am Ende so ein persönliches Wort eingefallen: „Er aber, der Gott des Friedens, mache euch heil und ganz und bewahre euren Geist samt Seele und Leib unversehrt, untadelig für die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus. Treu ist er, der euch ruft; er wird's auch tun!“

Sein innerster Wunsch ist damit ausgedrückt. Jeder und jede darf jetzt schon die Liebe spüren und genießen können, die Gott schenkt. Darum geht es Paulus. Das ist die Summe aller Ermahnungen: Alles soll wieder ganz und heil und gesund werden. Die christliche Gemeinde und jeder und jede von uns darf jetzt schon Gottes Liebe spüren und genießen.

Ganz am Ende erwartet Paulus nichts vom Menschen, aber alles von Gott. Es ist die ganze, große Liebe Gottes, die in diesen Worten ausgedrückt ist: „Treu ist er, der euch ruft; er wird's auch tun!“

Gott ist nicht zerrissen, nicht hin- und hergerissen, wie wir. Er ist treu und ganz und gar auf unserer Seite. Er ist der Einzige, der unsere Zerrissenheit heilen kann.

Wir gehen weiter auf unserm Weg durch die Zeit. Aber in allem Kummer und in allen Sorgen, die uns begleiten wissen wir. Er ist und bleibt unser Wegbegleiter in guten wie in schweren Tagen, in Zeit und auch in Ewigkeit. Amen.

Ihr Pfarrer Rainer Janus