Wort zum Sonntag – 21. Februar 2021

Der Sonntag Invokavit eröffnet die Passionszeit, die uns dem Leiden unseres Herrn und Heilands und seiner Mission in dieser Welt näher bringen soll.

Neben den körperlichen Schmerzen, die uns in zahlreichen Bildern von Kreuzwegen vor Augen geführt werden, gibt es Schmerzen der Seele. Und diese Verwundungen der Seele gehen oftmals tiefer und reicher weiter.

Davon erzählt uns der Evangelist Johannes:

Jesus hat seinen Jüngern die Füße gewaschen und spricht von der Liebe, die sich am Dienst an den Mitmenschen zeigt.

Als Jesus das gesagt hatte, wurde er erregt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.

Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete.

Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist's? Jesus antwortete: Der ist's, dem ich den Bissen eintauche und gebe.

Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn.

Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald! Niemand am Tisch aber wusste, wozu er ihm das sagte. Denn einige meinten, weil Judas den Beutel hatte, spräche Jesus zu ihm: Kaufe, was wir zum Fest nötig haben!, oder dass er den Armen etwas geben sollte.

Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht.

Mal Hand aufs Herz: Wem würden Sie ihren Geldbeutel anvertrauen? Welcher Mensch genießt so ganz uneingeschränkt ihr Vertrauen? Und wie groß wäre die Enttäuschung, wenn ausgerechnet dieser Mensch Ihr Vertrauen missbrauchen würde?

Judas war ein Mensch auf den immer und jederzeit Verlass war. Jesus und seine Jünger hatten ihm den Geldbeutel anvertraut. Er hatte ihr uneingeschränktes Vertrauen. Keiner hätte ausgerechnet ihm einen Verrat zugetraut.

Über den Verräter Judas ist in der ganzen Kirchengeschichte unendlich viel nachgedacht worden. Er folgt Jesus nach. Er sitzt mit ihm zu Tisch. Dass ein Fremder Jesus verraten könnte, das war vorstellbar. Das war sogar zu erwarten. Einer findet sich immer - aber doch niemand aus dem Kreis der Jünger und engsten Vertrauten.

Filmemacher, Theaterautoren und Schriftsteller haben die Ursachen für den Verrat Jesu in der Psychologie gesucht. Man spekulierte über Kränkungen, die Judas sich gefallen lassen musste, weil Jesus andere, beispielsweise den Lieblingsjünger, bevorzugte. Judas hätte dann den Verrat aus enttäuschter Liebe begangen. Oder er wollte Jesus zwingen, seine Macht durch Gewalt zu offenbaren.

Andere störten sich daran, dass die Bibel den Verrat des Judas mit dem Willen Gottes erklärte. Wie kann Gott wollen, dass Judas zum Verräter wurde und sich in der Folge das Leben nahm, wenn er doch allen Menschen seinen Segen und seine Barmherzigkeit verheißen hat? Wenn man so denkt, verwickelt sich die Theologie unweigerlich in Widersprüche.

Vielleicht hat das, was wir nicht verstehen können und was einen Menschen zum Verrat treibt tatsächlich einen Namen. Unser Bibelwort spricht vom Satan wie von einer Macht, die einen Menschen ergreift, sein Herz besetzt und letztlich zur bösen Tat verleitet. Und dann wird es Nacht. Es ist die Nacht der Ernüchterung. Es ist die Nacht der Enttäuschung, die Nacht der Verzweiflung.

Da lebt jemand in der Gemeinschaft einer Ehe und Familie. Vielleicht ist die eheliche Beziehung zur Routine geworden und der Familienalltag nicht mehr ganz unbelastet. Und dann ergibt sich eine Gelegenheit zur Untreue. Es schmerzt unendlich, wenn Vertrauen durch Untreue zerbricht. Gemeinsames Glück, gemeinsame Jahre sind plötzlich nichts mehr wert. Und dann wird es Nacht.

Überall, wo Liebe enttäusch wird, wo Vertrauen zerbrochen wird, da ist dieser unendliche Schmerz, der selten und nur schwer wieder heilen will. Menschen erleben das in der eigenen Familie, im Freundeskreis, unter Kollegen und Mitschülern.

Ich vermute, dass auch Judas sich gequält haben mag mit seiner Entscheidung. Aber ich finde es gut, dass der Evangelist die Perspektive von Jesus und den übrigen Jüngern einnimmt. Hier zeigt sich Jesus als Mensch, der Emotionen hat. Er ist erregt. Es ist bitter. Es geht ihm nahe.

Und vielleicht ist Jesus so Gott am nächsten. Der Gott der Liebe ist nicht der unbewegte Beweger, dem das Schicksal seiner Geschöpfe egal ist. Gott ist leidenschaftlich. Er leidet unter unserer Lieblosigkeit. Er leidet an unserer Bosheit. Aber er straft nicht in seinem Zorn, sondern geht den Weg der Liebe konsequent weiter.

„Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen.“ So hat es Jesus den Menschen gelehrt und dem Geiste dieser Liebe bleibt Jesus treu. Er reicht Judas den Bissen, das Zeichen der Gastfreundschaft. Die Lieblosigkeit des Verrats wird seine Liebe nicht überwinden oder zerstören.

Das ist schwer: Mitten in der Nacht der Bitterkeit nicht anfangen zu hassen. Nach Enttäuschung und Trennung nicht alle Brücken abzubrechen. Ein jahrelanges Zerwürfnis nicht einfach auf sich beruhen lassen. Nicht das Selbstmitleid pflegen, sondern Wege in die Zukunft suchen – Wege, die herausführen aus der Dunkelheit der Nacht, Wege, den Frieden zu suchen und zu finden. Das alles mag sehr schwer sein, aber es ist der Weg, den Jesus uns vorausgegangen ist und der am Ende aus der Finsternis des Todes zum Licht des ewigen Lebens führt.

Jesus geht seinen Weg weiter. Er ist der gute Hirte, der sein Leben lässt für die Schafe. Er zeigt uns, dass die Nacht nicht ewig währt. Was im kalten Licht des rationalen Denken nicht zu begreifen ist, das wird im warmen Schein der unendlichen Liebe Gottes plausibel. Lieblosigkeit zerstört und richtet zugrunde. Die Liebe hilft uns, den Schmerz zu überwinden. Sie heilt auch tiefe und alte Wunden.

Ausgerechnet mit einem Kuss, dem Zeichen der Liebe, wird Judas seinen Herrn und Heiland identifizieren. Aber Judas ist nicht allein. Der große Petrus wird leugnen, ihn zu kennen und zu ihm zu gehören. Die anderen Jünger und Freunde fliehen und tauchen im Dunkel der Nacht unter.

Jesus leidet auch heute. Er leidet an unserer Lieblosigkeit. Er leidet an der Bosheit der Menschen. Er leidet an der Zerstörung der Schöpfung, am Missbrauch seiner geliebten Geschöpfe. Und dieser Schmerz geht tiefer als die Nägel, die durch sein Fleisch getrieben wurden.

Nach menschlichen Maßstäben war sein Sterben am Kreuz ein Scheitern. Aber es gibt eben nicht nur die menschliche Perspektive, es gibt auch Gottes Sicht. Und die besagt: Jesus ist nicht im Tode geblieben. Der schwere Stein vor seinem Grab wurde wegewälzt. Jesus ist auferstanden und hat mit seiner Liebe den Tod, den letzten und stärksten Feind des Lebens überwunden. Oder in der Sprache des Johannesevangeliums: Gott hat Jesus verherrlicht, indem er sich zu ihm bekannte.

Der Mensch ist zurecht stolz auf seiner Hände Werk. Er hat viel und Großes geschaffen mit Wissenschaft und Technik. Denken wir an die moderne Medizin und die Möglichkeiten, auch schwere Krankheiten zu behandeln und schweres Leiden zu mindern. Wer hätte geglaubt, dass es möglich ist, in so kurzer Zeit einen erfolgreichen Impfstoff gegen das neuartige Virus zu finden und in so gewaltigen Mengen zu produzieren?

Aber es gelingt uns nicht, die Gewalt zu verhindern, die Kriege zu beenden, die Ungerechtigkeit und die Zerstörung zu stoppen. Im Gegenteil, Verschwörungstheorien heizen den Extremismus an. Die Verrohung der Sprache in den Medien nimmt zu. Mitmenschenverachtender Egoismus breitet sich immer mehr aus.

Wir Menschen brauchen offenbar eine Kraft, die von außen her uns zukommt. „Von oben her“ würde der Evangelist sagen. Unsere eigene Kraft reicht nicht aus, um das Böse in uns oder die böse Macht der Verführung und des Satans zu überwinden. Wir brauchen die Hoffnung, dass Gott selbst das Böse in Gutes verwandelt. Wir brauchen den Glauben, dass seine Liebe niemals aufhört und dass unser Vertrauen in den Gott der Liebe nicht enttäuscht wird, nicht in Zeit und nicht Ewigkeit. Amen

 

Pfarrer Rainer Janus