Wort zum Sonntag – 22. November 2020

„Die Toten sind lebendig in der Erinnerung der Lebenden. Sie sind erst tot, wenn niemand mehr von ihnen spricht, niemand mehr an sie denkt.“

So heißt es manchmal in Todesanzeigen. Und ich denke, wir alle verstehen diesen Wunsch, dass die Toten nicht vergessen werden. Deshalb pflegen wir ihre Gräber. Deshalb hängen Fotografien von ihnen gerahmt an der Wand. Es sind Bilder und Erinnerungen von Feiern und Familienfesten, gemeinsamen Ausflügen und Urlaubstagen.

Unsere Toten sollen gegenwärtig sein in unserem Leben. Und dennoch bleiben sie zurück, Stück für Stück, langsam verblassend, wie ein Foto aus vergangenen Jahren.

„Die Toten sind lebendig in der Erinnerung der Lebenden.“ Stimmt das? Ist das tatsächlich so? Wenn das Leben der Toten tatsächlich von unserem Gedenken abhängen würde, dann würde unsere Vergesslichkeit ihren endgültigen Tod bedeuten. Keine Spur von ihnen würde bleiben, wenn wir nicht mehr an sie denken, nicht mehr an sie denken können.

Die Bibel lehrt etwas anderes. Die Bibel sagt: Gott denkt an die Toten. Ja noch mehr: Gott ist bei den Toten und die Toten sind bei Gott. „Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da“. Unsere Toten bei Gott, in seinen guten Vaterhänden geborgen zu wissen, ist uns Trost, gerade in den Zeiten, wenn uns das Herz schwer wird, und die Gedanken zurückgehen zu den Menschen, die uns nahe standen und die jetzt nicht mehr da sind.

Manchmal kommt ja die Erinnerung an die Vergangenheit und stürzt uns von neuem in Trauer und lässt den Schmerz des Abschieds von neuem spürbar werden. Gerade heute am Toten- und Ewigkeitssonntag lässt sich der Tod nicht wegschieben, nicht verdrängen. Wir spüren den Verlust und den Schmerz in unserem Herzen. Aber es ist gut, dass es diesen Toten- und Ewigkeitssonntag gibt, an dem unsere Trauer, unser Schmerz und unsere Klagen ihren Platz und ihren Raum haben.

Wie schnell haben wir überspielt oder überspielen müssen, wie uns zumute war. Manchmal schämt man sich fast, seine Trauer zu zeigen. Nur selten ist Platz für Tränen. Tränen, die eben nicht nur einmal kommen und dann versiegen, sondern immer wieder. Vieles tragen wir ganz tief in uns. Mit manchem Gedanken sind wir ganz allein.

Egal auf welche Weise er uns trifft, der Tod. Er verändert unser Leben. Für viele haben sich die Lebensverhältnisse völlig verändert. Söhne und Töchter sind ohne Vater oder Mutter, Eheleute haben keinen Partner mehr, Enkel haben die Großeltern verloren. In der Nachbarschaft klafft eine Lücke, Freunde sind nicht mehr da. Mit diesen Veränderungen fertig zu werden dauert lange. Das Trauerjahr, das nach außen hin kaum noch eine Rolle spielt, hat seinen Sinn, und manch einer wird wissen und spüren, dass ein Jahr oft nicht reicht.

Totensonntag und Ewigkeitssonntag. Zwischen diesen beiden Worten liegt eine Grenze, die Grenze zwischen irdischem Leben und ewigem Leben, der Einschnitt, den der Tod setzt. Und mitten in der Trauer spüren wir die Sehnsucht hinüberzuschauen auf das, was dahinter liegt, auf den, der uns von dort entgegen-kommt; die Sehnsucht nach Halt, nach Geborgenheit und Frieden, die Sehnsucht nach dem, der mich an der Hand nimmt und sagt: Nun ist alles gut.

Noch so gute Worte, noch so kluge Argumente vermögen uns nicht zu trösten. Trost finden wir allein in der Nähe und Zuwendung, die uns in der Situation des Abschiednehmens entgegengebracht wird. Aber dazu gehört es, dass wir die Trauer auch zulassen, die Schmerzen nicht verdrängen. Dazu gehört es auch, dass wir die Tränen zulassen. Nur dann werden wir erfahren, wie es ist, wenn Gott diese Tränen trocknet.

„Gib mir die Gabe der Tränen, Gott“, heißt es in einem Gedicht von Dorothee Sölle. Keine Träne ist um-sonst, denn Tränen sind die Saat der Hoffnung, sie sind die Sprache der Sehnsucht. Aus Tränen und der Erfahrung von Leid wachsen Träume und Visionen, Bilder einer anderen Welt, die jedoch die Kraft haben, in unserer Welt Wirklichkeit zu werden.

Mit unseren Augen und mit unserem Verstand können wir nicht über den Horizont unserer Wirklichkeit hin-ausschauen. Die Linie, an der sich Himmel und Erde berühren, begrenzt unser Gesichtsfeld. Was dahinter liegt können wir Menschen nur erahnen. So wie unser Gesichtsfeld begrenzt ist, so ist auch unser menschliches Wissen begrenzt, im Blick auf unser Leben, unser Sterben und unseren Tod. Was jenseits der Todes-linie liegt, ist unserem menschlichen Verstand verborgen und dem vorbehalten, der keine Horizonte und keine Grenzen kennt. In seiner Hand steht unser Lebensweg diesseits und jenseits des Horizontes. Ihm zu vertrauen, das heißt Hoffnung haben.

Natürlich gelingt uns das nicht immer. Die Gedanken an das Ende drücken uns nieder. Zweifel nagen an uns. Ist es unsere Schuld, unser Versagen, unsere Strafe, dass wir vom Tag unserer Geburt an dem Ende unseres Lebens entgegengehen? Wir fragen nach dem Sinn dieses Lebens angesichts von Krankheit, Lei-den und Tod und finden keine Antwort, und erleben schmerzlich die Grenzen, die uns gesetzt sind.

Johannes, der Autor des letzten Buches der Bibel war ein Seher, ein Visionär, der Trost und Hoffnung predigte. In einer Zeit, in der die Christen vom Staat verfolgt wurden und ausgerottet werden sollten, war er auf die Gefängnisinsel Patmos verbannt worden. Sein Buch der Offenbarung enthält Ausblicke über unseren menschlichen Horizont hinaus. Was er sieht, gehört zu den schönsten und tröstlichsten Zeugnissen der Bibel überhaupt. Es sind Einblicke in das Herz unseres Gottes:

„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein.“ (Offb. 21, 1-7)

Das, was Johannes schaut, umgreift Raum und Zeit, Anfang und Ende vom Anbeginn der Erde bis zur neu-en Schöpfung Gottes. Er öffnet uns damit die Augen für unsere Zukunft und lässt auch uns über den Horizont unseres Erdenlebens hinausschauen. Wir erfahren, dass auch unsere Erde, unsere irdische Heimat, ein Ende haben wird. Wie jedem Menschen, jedem Geschöpf steht auch der Erde ihr Ende bevor.

Wie das kommt, wann das sein wird, erfahren wir nicht, aber auf unvorstellbare Weise umgreift Gottes Wirklichkeit unsere erfahrbare Wirklichkeit: Anfang und Ende liegen in seinen guten Händen. Und jenseits unseres Horizontes sieht Johannes einen neuen Himmel und eine neue Erde und die heilige Stadt Jerusalem von Gott aus dem Himmel herabkommen wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.

Es sind Bilder der Liebe, die Johannes sieht: Die Liebe und die Sehnsucht einer jungen Frau, die auf ihren Bräutigam wartet. Und wie die Liebe der Braut und Ihr Begehren erst Erfüllung findet in den Armen des Bräutigams, so kommt Gott nur zu seinem Ziel, wenn seine Liebe unsere Herzen erreicht und in unseren Herzen Erwiderung findet. Die Liebe von Eltern zu ihren Kindern klingt an, wenn vom Abwischen aller Tränen die Rede ist. Mütter und Väter wissen, wie viel Geduld und wie viel Mitgefühl nötig ist, bis Tränen getrocknet sind. Gott hat diese Geduld, er hat dieses Mitgefühl. In seinen Armen finden wir Trost in aller Trauer.

Im Herzen unseres Gottes glüht die Liebe zu all dem, was er ins Leben gerufen und geschaffen hat. Darum spricht die Bibel von der Verheißung, dass wir jenseits des Todes mit einem neuen Anfang rechnen dürfen, wo Tod und Leid und Schmerz keinen Platz mehr haben. Da, wo der Tod herrscht will Gott neues Leben schaffen. So wie er seinen Sohn Jesus Christus nicht im Tod gelassen hat, sondern auferweckt hat von den Toten am dritten Tag, so werden auch wir eine ewige Heimat bereitet finden.

Aber auch hier in unserer irdischen Heimat lässt Gott uns nicht allein. Er will unter uns wohnen, er will bei uns sein. Seine Liebe will spürbar und sichtbar wirken unter uns – inmitten von Trauer und Verzweiflung will er trösten und neue Hoffnung wecken. Es gehört zu den alten Traditionen des Toten und Ewigkeitssonn-tags, dass wir auf die Friedhöfe gehen und die Gräber unserer Lieben besuchen. Wir vergegenwärtigen uns Vergangenes. Gedanken und Gefühle werden wieder lebendig in uns. Aber wir bleiben nicht an den Gräbern stehen, wir bleiben nicht der Trauer verhaftet. Unser Lebensweg führt weiter. Er führt auch uns dem Ende entgegen.

Wenn alle uns vergessen: Gott vergisst uns nicht. Wir wissen, dass Gottes Liebe uns begleitet, und unser Leben und Sterben in den Händen dessen ruht, der einen neuen Himmel und eine neue Erde für uns bereitet hat. Amen

Pfarrer Rainer Janus

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