Wort zum Sonntag – 15. November 2020

Der Apostel Paulus schreibt im seinem 2. Brief an die Korinther von der Sehnsucht nach der himmlischen Heimat:

Denn wir wissen: wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel.

Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden.

Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben.

Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. So sind wir denn allezeit getrost und wissen: solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen.

Wir sind aber getrost und haben vielmehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn. Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen. Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse. (2. Kor 5,1-10)

Immer wieder lesen wir in der Bibel von einer Lebensperspektive, die über unsere irdische Existenz hin-ausreicht. Und diese Lebensperspektive ist stets verbunden mit der Hoffnung auf Gerechtigkeit. Vor dem Richterstuhl Christi wird das Unrecht ein Ende finden und die Gerechtigkeit aufgerichtet werden.

Unrecht erleiden ist eine bittere Erfahrung.  Und nicht selten stehen wir vor der Aufgabe mit erlittenem Unrecht zu leben, das nicht wieder gutzumachen ist.

Die Kreuze auf den Totenfeldern und Massengräbern der Weltkriege erinnern an die Bitterkeit und End-gültigkeit des Todes. Wir lesen die Namen von Gefallenen und Ermordeten auf sogenannten „Ehrentafeln“ überall in ganz Europa. Es sind die Namen von Männern und Frauen, darunter Jugendliche im Alter von 14, 16 und 18 Jahren. Sie hätten das Leben noch vor sich gehabt.

Wir suchen nach einer Antwort auf die Frage: Warum diese Kriege, warum diese Waffengewalt, warum dieses Morden und Abschlachten unter den Menschen, das uns fassungslos in großer Trauer zurück-lässt?

Ich denke auch an die aktuellen Krisenherde und Kriegsgebiete in unserer Welt. Ich denke an islamistische Terrorakte und rechtsradikale Angriffe auf Synagogen und Moscheen. Das Morden hat noch immer kein Ende. Wir erleben gegenwärtig eine Verrohung der Sprache vor allem in den digitalen Medien gepaart mit einem Mangel an gutem Willen, die Freiheit und die Gesundheit der Mitmenschen zu achten. Ein neuer unverfrorener Egoismus bricht sich Bahn auch in Politik und Wirtschaft. Noch sind alte Wunden nicht verheilt, werden wieder neue aufgerissen. Das Leid und die Trauer kennen keine Grenzen.

Und weil das so ist, steht der Apostel Paulus unter einem ganz erheblichen Rechtfertigungsdruck: Die Menschen seufzen und sind beschwert und sie fragen: Was hat sich mit Jesus Christus geändert in dieser Welt? Ist er nicht am Ende doch gescheitert? Ist dieser Christus am Ende nicht selbst ein Opfer der Gewalt geworden?

Das sind auch Fragen an Kirchen und Christen heutzutage: Das Christentum gibt es ja nunmehr fast 2000 Jahre. Und solange wird die Botschaft der Liebe hineingetragen in diese Welt - und was hat das bewirkt? - Ist die Welt besser geworden?

Ich denke, diese Frage müssen wir uns als Christen heute stellen lassen, auch und gerade dann, wenn unsere weltweite Gemeinschaft in verschiedene Kirchen und kirchliche Gemeinschaften unterschiedlichster Art aufgespalten ist. Ist die christliche Botschaft vielleicht doch nicht mehr als eine Vertröstung auf den St. Nimmerleinstag?

Paulus sieht die eigenen Schwächen, und er ist, denke ich, sehr ehrlich, wenn er von diesem irdischen Dasein als von einer Hütte spricht. Dieses Leben ist kein herrlicher Prachtbau, wo alles stimmt und alles den richtigen Platz und die richtige Funktion hat: Dieses Leben ist in Wahrheit eine Hütte, an der vieles auch nicht stimmt und so manches notdürftig zusammengezimmert ist - keineswegs für die Ewigkeit bestimmt.

Aber Paulus bleibt nicht stehen bei dieser deprimierenden Feststellung. Er stellt ein anderes Haus in Aus-sicht, das auf uns wartet. Die Frage: Welchen Wert hat mein menschliches Leben, welchen Sinn und welches Ziel hat es, findet eine Antwort: Gott hat ein Haus, eine Wohnung für mich bereitet. Und dieses Haus unterscheidet sich von vielen irdischen Häusern, dass es nicht von Menschenhand, sondern von Gottes Hand gemacht ist - und damit Ewigkeitscharakter hat. Gott hat diese ewige Heimat extra für mich bereitet. Christus ist für mich ganz persönlich am Kreuz gestorben. Weil Gott mich liebt, darum ist mein Leben unendlich wertvoll.

Es ist ein wunderbares Bild, das der Apostel hier gebraucht: Unsere irdische Existenz wird von der himmlischen umkleidet. Unsere irdische Existenz bleibt. Aber damit wir nicht nackt und bloß und mit leeren Händen dastehen - sozusagen auf den Trümmern unserer irdischen Existenz - werden wir eingehüllt, um-geben und geborgen von diesem neuen Leben, das Gott uns verheißen hat. Und vielleicht wird es so sein, dass das Gute in uns weiter wachsen und reifen darf, während die unguten Seiten, unsere verborgene Sünde zurechtgerückt und zurechtgebracht wird, auf dass wir im Lichte Gottes bestehen.

Aber: Ist das nicht doch der alte, ein wenig naive Jenseitsglaube, mit dem man Menschen gerne vertröstet? „Paulus“, fragen wir, „Paulus: Wie kannst Du über den Tod und das, was kommt, Bescheid wissen? Du bist doch auch nur ein Mensch. Wie kannst Du in die Zukunft schauen?“

Paulus - so wie ich ihn kenne - würde antworten und sagen: „Ich schaue nicht in die Zukunft. Das kann auch ich nicht. Ich schaue zurück, zurück auf jenen Ostermorgen, an dem Gott den Tod überwunden und Jesus Christus aus dem Grab ins Leben gerufen hat. Das Licht jenes Ostermorgens ist die Hoffnung, die bis in Dunkel unserer Gegenwart hineindringt.“

Weil Gottes Wirklichkeit die Wirklichkeit dieser Welt von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende umschließt, wer-den wir in seiner Wirklichkeit bleiben und bei ihm eine ewige Heimat finden. In Jesus Christus ist Gottes Wirklichkeit in die Realität unserer Welt hereingekommen. Alles, was in seinem Namen und in seinem Geist geschieht, ist ein Vorgeschmack auf das, was uns dereinst in Gottes Wirklichkeit erwartet.

Kümmert Euch weniger um das Leben nach dem Tod. Kümmert euch mehr um das Leben vor dem Tod. Das ist die Lebenseinstellung vieler Zeitgenossen heute. Paulus wurde dazu sagen: Ja, das ist richtig. Kümmert euch mehr um das Leben vor dem Tod. Ihr lebt hier und jetzt. Aber vergesst eure Sehnsucht nicht. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden. Die Sehnsucht nach Heil und Heilung für Leib und Seele. Tragt mehr vom Geist und der Liebe Christi hinein in diese Welt. Schaut darauf, dass statt Hass und Gewalt, Vergebung und Versöhnung unter euch lebendig werden. Und die Kraft und die Geduld da-zu, die schöpft aus dem Glauben an Gottes Wirklichkeit, die eure Zukunft ist. Um das Leben nach dem Tod, da braucht ihr euch nicht zu bekümmern. Da könnt ihr getrost sein, da hat sich unser Herr und Hei-land am Kreuz darum gekümmert. Auf ihn könnt ihr vertrauen, von ihm könnt ihr euch leiten lassen, denn er ist in den Tod gegangen, damit wir leben in Zeit und Ewigkeit. Amen.

Pfarrer Rainer Janus

PDF Datei zum Herunterladen: Wort zum Sonntag Volkstrauertag