Wort zum Sonntag – 13. September 2020

Liebe Leserinnen und Leser,

der Evangelist Lukas berichtet von der schicksalhaften Begegnung des Oberzöllners Zachäus mit Jesus von Nazareth:

Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich.

Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen.

Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. Da sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.

Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.

Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. (Lukas 19, 1-10)

Zachäus bleibt Oberzöllner und wird doch ein ganz anderer. Die Liebe Gottes, die ihm in Jesus begegnet ist, hat ihn von der Last seiner Vergangenheit befreit und ihm eine neue Zukunft eröffnet. – Und Zachäus macht sich tatsächlich auf den Weg, für seine Schuld einzustehen.

Wie es ihm dabei ergangen ist, wissen wir nicht. – Viele werden ihm sicher weiter mit Misstrauen begegnen, ihm vielleicht erst gar nicht anhören wollen. – Sein neuer Weg ist nicht leicht, das soll und darf hier nicht verschwiegen werden.

Aber über all dem steht eine große Freude: Die Freude darüber, dass sich Zachäus’ tiefe Sehnsucht erfüllt hat: Was in seinem Leben zerbrochen war und unversöhnlich entzweit, ist geheilt worden. – Die persönliche Schuld, die verpassten Gelegenheiten, die zerbrochenen Beziehungen, das alles ist nicht weg, aber all das hat einen angemessenen Platz gefunden in seiner Biographie. Zachäus kann sich selbst annehmen, weil erfahren hat, dass er angenommen ist in der Liebe und Gnade Gottes. Jesus bringt es auf den Punkt: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren.

Jericho war keine arme Stadt. Sie lag an einer bedeutenden Handelsstraße. Und das machte die Zollstelle in Jericho besonders lukrativ. Zachäus hatte das Zollrecht von den Römern gekauft, das war damals so üblich. Aber die Quelle seines Reichtums war teuer erkauft. Wer mit der heidnischen römischen Besatzungsmacht Geschäfte machte, der war in den Augen der Bevölkerung nichts anderes als ein mieser Verräter, einer, der Volk und Vaterland verraten hatte und seinen Glauben ebenso. Undenkbar, dass Jesus, der Rabbi aus Nazareth, einen solchen Zöllner auch nur eines Blickes würdigt.

Es war bekannt, dass Jesus nach Jericho kommen wollte. Wer gut informiert war, wusste, dass er auf dem Weg nach Jerusalem ist. Die Neugierde trieb die Menschen hinaus auf die Straßen. Man könnte ja etwas verpassen. Man hatte schon viel über ihn gehört, viel Gutes. Manche sagen, er sei der Messias, Begeisterung kommt auf. Vielleicht; würden mit ihm alle unsere großen Träume in Erfüllung gehen: Freiheit, Frieden, Wohlstand.

Als Jesus vor dem Maulbeerbaum stehen bleibt, verstummen die Rufe. Alle schauen gespannt zu dem Baum hin. Und wer es bis jetzt noch nicht bemerkt hatte, der sah es jetzt: Dort oben saß Zachäus, der Herr Oberzöllner, auf einem Ast. Was würde Jesus zu ihm sagen, zu diesem Kollaborateur und Römerfreund? Würde er die Gelegenheit nutzen, und das aussprechen, was so vielen auf der Seele lag?

Wir wissen nicht, wie Zachäus zu diesem ungeliebten Beruf gekommen ist. Vielleicht war er schon als Kind gehänselt und verspottet worden, weil er so klein war. Er machte sicherlich oftmals die Erfahrung, übersehen und mit seinen Fähigkeiten nicht ernst genommen zu werden. Und so war es möglicherweise sein Wunsch, anerkannt zu werden, der seine Berufswahl bestimmt. An einem Zöller kam man nicht so leicht vorbei. Sein Beruf gibt ihm die Bedeutung, die er rein körperlich nicht hat. Er macht sogar Karriere und wird Oberzöllner. Er arbeitet viel, aber nicht aus Freude am Beruf, sondern motiviert durch die Sehnsucht nach Respekt, nach Größe und nach Macht über andere Menschen. Er, der immer ganz untern war, will endlich auch mal oben stehen und bestimmen.

Würde Jesus vielleicht sagen: „Komm runter, du Halsabschneider, wir wollen endlich mit dir abrechnen, du Betrüger!“? Oder würde er ihn wenigstens öffentlich verdammen?

Das waren die Erwartungen, die Jesus enttäuscht hat, als er sich ausgerechnet beim Oberzöllner Zachäus zum Essen einlud. Er hätte ja vorbeigehen können und sich nicht um diesen Menschen kümmern müssen, dann wäre gar nichts passiert. In jedem anständigen Haus in Jericho wäre er ein willkommener Gast gewesen. Seiner Popularität war diese Einladung jedenfalls nicht zuträglich. Im Gegenteil: Er zog sich den Zorn der Bewohner von Jericho zu. Manch einer war enttäuscht und statt zu jubeln murrten jetzt viele: „Bei einem Sünder kehrt er ein, ausgerechnet bei diesem Oberzöllner Zachäus.

So geschah es häufig, wenn Jesus irgendwohin kam. Denken Sie doch nur an seinen triumphalen Einzug in Jerusalem. Nur wenige Tage später schrien dieselben Menschen, die ihm das Hosianna zugerufen hatten: „Kreuzige ihn!“ Er hatte ihren Erwartungen nicht entsprochen.

Die Bewohnern von Jericho steckten die Köpfe zusammen und murrten. Aber Jesus sagt klipp und klar: „Ich bin gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Das bedeutet: „Den, den ihr als verloren betrachtet, den suche ich auf und gerade den will ich selig machen.“ Damit verstößt Jesus gegen das, was man in unserer Gesellschaft den guten Ton nennt.

Auch heute haben Menschen Schwierigkeiten mit Jesus und seinen Vorstellungen von der Liebe zu den Armen und Benachteiligten. Und manche verstehen nicht, dass eine Kirche sich in die Politik einmischt, wenn es beispielsweise um Menschenrechte und Menschenwürde geht. Darf die Kirche im Namen Jesu Christi ein Schiff entsenden, das Menschen vor dem Ertrinken retten soll? Darf die Kirche die Zustände in Moria und den vielen anderen Flüchtlingslagern dieser Welt öffentlich machen, um Geflüchteten Zukunftsperspektiven zu eröffnen?

Die Liebe Gottes zu den Menschen stört die satte Zufriedenheit derer, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Aber Abraham hat viele Kinder. Und in Jesus Christus wendet Gott sich in besonderer Weise denen zu, die auf der Schattenseite leben oder leben müssen.

Die Begegnung mit Zachäus in Jericho zeigt uns Jesus in seiner ganzen Radikalität. Für uns wird sein Handeln zu einer ernsten und unbequemen Anfrage an unser Christsein. Haben nicht auch wir falsche Erwartungen an Jesus? Für Zachäus wurde es hell in seinem Leben, als Jesus zu ihm kam. Er wusste darum, dass er diese Zuwendung eigentlich gar nicht verdient hatte. Aber trotz allem setzte er auf Jesus seine ganze Hoffnung.

Was mich erstaunt, ist: Zachäus zögerte nicht eine Sekunde. In der Bibel heißt es: „Und er stieg eilend hinunter und nahm ihn auf mit Freuden.“ Zachäus überlegte nicht lange hin oder her. Nein, er lässt Jesus einkehren in sein Haus, in den persönlichen Bereich seines Lebens.

Kinder finden diesen Zachäus sympathisch; schon allein seines Namens wegen. Und wenn sie dann noch erfahren, dass er so klein war und deshalb auf einen Baum klettern musste, dann hat er endgültig das Herz der Kinder gewonnen.

Mir ist dieser Oberzöllner aus einem ganz anderen Grund sympathisch. Es imponiert mir, dass der Glaube des Zachäus an seinem Geldbeutel nicht Halt macht. Er steht vor Jesus hin und bekennt offen, dass er betrogen hat. Er hat die Macht missbraucht, mit der ihn die Römer zum Zweck des Zolleinnehmens ausgestattet haben. Und es bleibt nicht bei einem bloßen Lippenbekenntnis. Zachäus zeigt tätige Reue und verspricht, vierfach zurückzugeben, was er erschlichen.

Wo bei vielen Menschen die Freundschaft oder zumindest die Kirchenmitgliedschaft aufhört, da fängt der Glaube bei diesem Zachäus an. Zachäus meint es ernst: Die Hälfte seines Vermögens den Armen zu geben, ist ihm nicht zuviel. Da kann man nur staunen, wie die Tischgemeinschaft mit Jesus einen Menschen verändern kann.

Auch wir sind eingeladen zur Gemeinschaft mit Jesus Christus. Jesus Christus will auch zu uns kommen in unser Leben, damit auch unser Leben einen Sinn gewinnt und nicht verloren geht im Eigensinn.  „Er nahm ihn auf mit Freuden!“  das ist der Wendepunkt im Leben des Oberzöllners aus Jericho. Vielleicht auch in unserem Leben?

Und so bitten wir: Herr, Jesus Christus, du bist gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Fang hier bei uns damit an. Amen.

Pfarrer Rainer Janus

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