Wort zum Sonntag – 16. August 2020
Liebe Leserinnen und Leser,
am 22. Oktober ist der 80. Jahrestag der Deportation unserer jüdischen Mitbürger nach Gurs. Baden wurde für „judenfrei“ erklärt. Es gibt kaum noch Zeitzeugen für das, was da vor 80 Jahren vor aller Augen geschehen ist.
Aber Geschichte ist eine Realität, die wir nicht einfach abschütteln können. Auch wenn uns keine Schuld trifft an den rassistischen Verbrechen der Nationalsozialisten damals, so sind wir dennoch in der Pflicht, solche Verbrechen in Gegenwart und Zukunft zu verhindern.
Auch als Christen sind wir gefragt, denn der Antisemitismus und Antijudaismus haben eine ihrer Wurzel auch in einem falschverstandenen, lieblosen christlichen Glauben. Die christliche Kirche hat ihre Unschuld verloren, in dem Moment als aus verfolgten Christen christliche Verfolger geworden sind.
Wenn sie nach Straßburg kommen, dann schauen sie sich die Darstellung der Ekklesia, der Kirche und der Synagoge im Südportal des Münsters an. Es sind zwei Frauengestalten. Rechts steht die Kirche, das Haupt erhoben, der Blick in die Ferne gerichtet. Sie trägt sieghaft eine Fahnenstange mit Kreuz. Die Synagoge hat eine Binde vor den Augen. Sie hält den Kopf gesenkt. Ihre Fahnenstange ist zerbrochen.
Ich denke, wir können diese Darstellungen heute nicht mehr betrachten unter Absehung der Geschichte. Die Frau mit der zerbrochenen Fahnenstange wurde entehrt, geschlagen und in einer beispiellosen Mordmaschinerie vernichtet. Und die Ekklesia, die Kirche, hat zugesehen – ohne den Mut zu einem klaren und eindeutigen Wort.
Meine Mutter hat mir berichtet, wie in ihrer Schulzeit ein nationalsozialistisch angehauchter Religionslehrer eines schönen Tages angeordnet hat, das Religionsbuch aufzuschlagen und den Satz zu streichen, „denn das Heil kommt von den Juden“. Das ist ein Zitat aus dem Johannesevangelium (Joh 4,22). Dieser Lehrer hat natürlich das Gegenteil von dem erreicht, was er eigentlich beabsichtigte. Der Satz, der im Religionsbuch durchgestrichen wurde, hat sich unauslöschlich in das Gedächtnis der Schülerinnen eingeprägt; sehr viel fester als der ganze übrige Unterricht. „Denn das Heil kommt von den Juden.“ Ohne den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, und ohne sein auserwähltes Volk gibt es kein Heil für die Völker.
Auch das ist eine geschichtliche Realität, dass es Wüstennomaden waren, die erste Erfahrungen mit dem einen und lebendigen Gott machen konnten. Und es waren Erfahrungen, die so wichtig waren, dass man sie aufgeschrieben und überliefert hat, bis auf den heutigen Tag.
Gott geht den Weg durch die Geschichte. Er zeigt sich in der Geschichte als ein Freund des Lebens und ein Freund der Menschen. Dieser Gott ist einer, der Sklaven in die Freiheit führt, der in zehn Geboten aufzeigt, wie das Leben gelingen kann. Dieser Gott ist einer, der sich Menschen auserwählt und sie zu Werkzeugen in seinem Heilsplan macht.
Und hier kommt nun der Apostel Paulus ins Spiel. Paulus hieß ursprünglich Saulus und wurde als Jude geboren. Er ist mit dem jüdischen Glauben aufgewachsen und hat sich der strengen Schule der Pharisäer angeschlossen. So ist er zu einem radikalen Verfechter des jüdischen Glaubens und zu einem blutigen Verfolger der Jesusanhänger geworden.
Wir wissen nicht warum, vielleicht ist es sein Humor, dass Gott manchmal seine schärfsten Widersacher zu seinen Freunden macht. Gott ruft den Verfolger Jesu in die Nachfolge Jesu. Paulus wird zum Wanderer zwischen ganz unterschiedlichen religiösen und kulturellen Welten und er wird zum Vermittler zwischen diesen Welten.
Paulus schreibt: Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht: »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. (Römer 11, 25-32)
Dabei ist für Paulus eines klar: Gott bleibt bei seinem Wort. Er nimmt sein Versprechen nicht zurück. Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Menschen sind da ganz anders. Ohne zu überlegen, fallen jedem von uns unzählige Situationen ein, wo jemand sein Versprechen gebrochen hat, und das ist ganz oft sehr bitter. Aber bei Gott gibt es das nicht. Er bleibt bei dem, was er verheißen hat. Abraham hat er einst berufen und ihn zum Segen gemacht für alle Geschlechter auf der Erde. Und Israel hat er zum Gottesvolk gemacht, auserwählt, nicht nur für ein paar Jahre und Jahrhunderte, sondern für immer und alle Zeit.
Aber Propheten wie Jesaja und Jeremia künden an, dass Gott in seinem Heilsplan nicht stehen bleibt. Auch die Völker, die Heiden, sollen den Weg zu dem einen und einzigen Gott finden. Als Christen glauben wir, dass Gott durch Jesus von Nazareth alle Menschen, alle Völker zu sich ruft! Neben dem Volk Israel will er alle Menschen durch den Glauben zu seinem Volk, zu seinen auserwählten Kindern machen.
Vielleicht ist es hilfreich, wenn wir Christen uns klarmachen, dass unser christlicher Glaube ist zutiefst verwurzelt mit der jüdischen Gotteserfahrung in der Geschichte, wie sie in den Büchern und Schriften des Alten Testaments gebündelt und überliefert ist.
Erst durch das Opfer am Kreuz haben wir den Zugang zum Heil. Das ist nicht unser Verdienst, sondern Gottes Gnade und Barmherzigkeit. Und deshalb haben wir Christen auch keinerlei Grund überheblich zu sein: der Apostel warnt uns an anderer Stelle mit den Worten: Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich (Röm 11, 18).
Christliche Arroganz hat dies schon immer gerne übersehen. Und vielleicht ist unsere Überheblichkeit ein Grund, dass wir in schwierigen Zeiten unseren jüdischen Mitmenschen nicht zur Seite gestanden haben. Der Apostel Paulus litt darunter, dass die Mehrheit seiner jüdischen Zeitgenossen nicht an Jesus Christus, den von Gott gesandten Messias glauben konnten und wollten. Wie die Propheten einst spricht Paulus von Verstockung. Und damit können wir Menschen nicht gut umgehen. Das alles hat letztlich zu gegenseitigen Missverständnissen, zu Verfolgungen, zum Judenhass und zu Judenpogromen geführt.
1945 hat die Ev. Kirche in Deutschland das sogenannte Stuttgarter Schuldbekenntnis formuliert und darin im Blick auf die Rolle der Kirche im 3. Reich gesagt: Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.
Heute gibt es wieder jüdische Gemeinden in Baden. Oft sind es Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion. Aber auch heute können sie noch immer nicht leben ohne die Angst, um ihres Glaubens willen bedroht zu werden. Synagogen müssen auch heute noch von bewaffneten Polizisten Beschütz und bewacht werden.
Müssten wir nicht auch heute mutiger bekennen, treuer beten, fröhlicher glauben und brennender zu lieben?
In Israel verfolgt man sehr aufmerksam die Entwicklung des Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft, nicht nur in Deutschland, sondern auch beispielsweise im benachbarten Frankreich. Menschen, die aus der Geschichte nichts lernen wollen, machen ja immer noch und immer wieder in unschöner Weise von sich reden. Und in Israel nimmt man natürlich auch wahr, wie wir als Christen und als Kirchen darauf reagieren. Hier ist das Zeugnis unseres Glaubens gefragt und unser Bekenntnis zu dem, der die Liebe nicht nur gepredigt, sondern auch vorgelebt hat. Hier zeigt sich, ob seine Liebe auch tatsächlich in unseren Herzen wohnt.
Der bekannte jüdische Schriftsteller Martin Buber soll einmal gesagt haben: Wir haben doch viel gemeinsam. Ihr Christen glaubt, dass der Messias schon einmal hier war, wieder weggegangen ist, und dass er wiederkommen wird. Wir Juden glauben, dass er wiederkommen wird, aber, dass er nicht hier war. Mein Vorschlag: Lasst uns doch zusammen auf ihn warten. Und wenn er kommt, können wir ihn ja selber fragen, ob er schon einmal hier gewesen ist.
Und Martin Buber soll schalkhaft hinzugefügt haben: Und wenn er kommt, werde ich in seiner Nähe stehen und ihm ins Ohr flüstern: Sag es besser nicht.
Ich denke der Vorschlag Martin Bubers ist zukunftsweisend, dass wir als Christen und Juden unsere Gemeinsamkeiten suchen und miteinander warten. Wenn wir Christen uns mit den Wurzeln unseres Glaubens beschäftigen, werden wir viel über die jüdische Art zu glauben erfahren – und vielleicht werden unsere jüdischen Glaubensgeschwister umgekehrt, die Liebe Gottes in Christus kennen und schätzen lernen.
Mit dem Gebot der Nächstenliebe hat Jesus von Nazareth unserem christlichen Glauben eine besondere Ausprägung gegeben. Nicht dass dieses Gebot dem Judentum oder dem Islam unbekannt wären. Es stammt ja aus dem Alten Testament. Aber dieses Gebot gibt der christlichen Stimme eine besondere Aufgabe im Dialog der Religionen.
Es ist unsere Aufgabe als Christen, die anderen an die Liebe Gottes zu erinnern, der über die Lieblosigkeit unter den Menschen und den abgrundtiefen Hass weint, wie einst Jesus weinte über die Stadt Jerusalem. Gott hat Tränen in den Augen, wenn Menschen in Angst und Furcht leben müssen. Es ist unsere Aufgabe, an den Gott zu erinnern, der unter Krieg und Gewalt, unter Entführung und Mord leidet, wie einst Jesus am Kreuz gelitten hat. Und es ist unsere Aufgabe, an den Gott zu erinnern, der uns trotz aller Schuld nicht allein lässt, sondern Tränen trocknet, tröstet, neue Hoffnung schenkt und am Ende alles, was verletzt war, wieder heil macht und ganz an Leib und Seele. Amen.
Pfarrer Rainer Janus
PDF-Datei zum Herunterladen: Wort zum Sonntag 10 Sonntag nach Trinitatis