Wort zum Sonntag – 27. Juni 2021

Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern ist Weltliteratur geworden. Sie gehört zu den bekanntesten Geschichten der Bibel.

Freunde kann man sich aussuchen, Geschwister hat man. In den Augen der anderen war Josef ein Träumer, ein Angeber und wurde völlig zu Unrecht von Erzvater Jakob bevorzugt.

Freunde kann man sich aussuchen, Geschwister hat man. So wird wohl auch Josef selbst gedacht haben, als er nackt in eine Zisterne geworfen und später als Sklave nach Ägypten verkauft wurde.

Am Ende der Geschichte werden die Karten neu gemischt. Als der Erzvater Jakob starb, waren die Geschwister in Ägypten vollständig auf Josef angewiesen. Ihr Leben und ihr Wohlergehen lagen in seiner Hand. Er hätte bittere Rache nehmen können an seinen Brüdern, aber Josef handelt im Geist der Liebe und reicht ihnen die Hand zur Versöhnung:

Im ersten Buch Mose lesen wir: Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte.

Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte.

Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Ein Bauer hatte sehr mageres Land zu beackern, nur einen Sohn, der ihm half, und nur ein Pferd zum Pflügen. Eines Tages lief ihm das Pferd davon. Alle Nachbarn kamen und bedauerten den Bauern wegen seines Unglückes. Der Bauer blieb ruhig und sagte: „Woher wisst ihr, dass es ein Unglück ist?“

In der nächsten Woche kam das Pferd zurück und brachte zehn Wildpferde mit. Die Nachbarn kamen wieder und gratulierten ihm zu seinem Glück. Wieder blieb der Bauer ruhig und sagte: „Woher wisst ihr, dass es Glück ist?“

Eine Woche später ritt der Sohn auf einem der wilden Pferde und brach sich ein Bein. Er konnte dem Vater nicht mehr helfen. Die Nachbarn kamen und bedauerten sein Unglück. Wieder blieb er ruhig und sagte: „Woher wisst ihr, dass es Unglück ist?“

In der folgenden Woche brach ein Krieg aus, Soldaten kamen ins Tal, um junge Männer mitzunehmen, mit Ausnahme des Bauernsohnes, der ein gebrochenes Bein hatte. – so erzählt es eine alte chinesische Parabel.

Eigentlich könnte man die biblische Geschichte von Josef und seinen Brüdern genau unter diesem Titel zusammenfassen – was ist Glück oder Unglück? Josef ist der Lieblingssohn des Vaters – ist das ein Glück? Seine Brüder sind eifersüchtig auf seine schönen Kleider. Die Träume Josefs schüren den Neid und die Brüder verkaufen ihn als Sklaven an eine vorbeiziehende Karawane – ist das Unglück?

Josef kommt nach Ägypten, ins Haus des Potifar. Und weil Gott seinen Segen auf ihn gelegt hat, wurde er bald der Vertraute seines Herrn – Glück?. Dadurch fiel er aber der Hausherrin auf, die gern mit ihm ein Verhältnis eingegangen wäre. Josef weigert sich und wird prompt des versuchten Ehebruchs beschuldigt. Er kommt ins Gefängnis – Unglück? Im Gefängnis trifft er den Mundschenk des Königs und seinen Bäcker. Ihnen kann er mit Gottes Hilfe Träume deuten – Glück? – denn der Mundschenk erinnert sich an Josef, als der Pharao Träume hat. Josef deutet sie und wird zum wichtigsten Berater des Pharao. Indem Josef in Ägypten gut wirtschaftet und in den 7 reichen Jahren Vorräte ansammelt für die 7 schlechten Jahre, kann er auch seinen Vater und seine Brüder vor dem Hungertod retten.

Bei jedem der Schritte Josefs könnte man fragen – Glück oder Unglück? Das, was zuerst als Glück erscheint, verwandelt sich bald in Unglück und umgekehrt, so wie in dieser alten chinesischen Parabel.

Es sind uralte und elementare Lebenserfahrungen, die in solche Geschichten einfließen – Glück, das nicht lange währt, Unglück, das sich wenden kann. Die Besonderheit der Josefgeschichte, die mit ihrem Auf und Ab unserem eigenen Leben und Alltag nahe steht, ist die Treue Gottes. In guten und schlechten Zeiten steht Gott Josef zur Seite und führt zum Schluss alles zu einem guten Ende, so dass jeder merkt: All das war nötig, damit das Volk Gottes überlebt. „Gott hat mich vor euch her gesandt, damit ihr überlebt“ – sagt Josef seinen Brüdern. Damit wird alles Glück und alles Unglück in Gottes großen Plan eingebaut, dessen Einzelheiten der Mensch nicht immer verstehen kann, den Gott selbst aber zu einem guten Ende führt.

Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.

Gott begegnet uns in der Joseferzählung als der, der in die Tiefen des Lebens mitgeht und immer wieder segnend und rettend erfahren wird. Ein Gott, der eben auch auf krummen Wegen gerade schreiben kann. Und von dem Paulus viel später sagen kann „Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“ (Römer 8,28).

Erst im Rückblick wird der große Plan Gottes offenbar. Alles erscheint in einem anderen Licht. Alles ergibt plötzlich einen Sinn.

Aber: Das Verhältnis zwischen den Brüdern muss gesondert aufgearbeitet werden. Denn den eigenen Bruder als Sklaven zu verkaufen, dem Vater zu sagen, dass ein wildes Tier ihn zerrissen hat, das war unverzeihlich. Und das wussten die Brüder allzu gut. Der Moment der Aufarbeitung kam, als Vater Jakob starb. Jetzt bekamen Josefs Brüder es mit der Angst zu tun. Würde er sich nun an ihnen rächen?

Wieder suchen die Brüder einen Ausweg. Die Lösung dieses Mal: sie schicken einen Boten zu Josef der ihn mündlich von einem Testament des Vaters in Kenntnis setzen sollte. Angeblich hatte der Vater als letzten Wunsch geäußert, Josef möge seinen Brüdern verzeihen! Die Brüder verstecken sich hinter der Autorität des Vaters und hinter einer Lüge.

Wie reagiert Josef? Er sagt kein Wort. Er weint nur. Weil ihm ganz klar ist, was da abläuft. Schon wieder spielten seine Brüder ein falsches Spiel mit ihm! Als Kind hatten sie ihm Gewalt angetan und nun wollten sie ihn zur Vergebung zwingen, quasi auf Befehl des Vaters hin. Vielleicht war dieser Moment für Josef noch schmerzlicher als die feige Tat vor vielen Jahren.

Die Tränen und die Wehrlosigkeit Josefs, machen nun ihrerseits die Brüder wehrlos. Jetzt waren auch sie am Ende, an dem Ende, das allein einen neuen Anfang ermöglicht. Sie kommen nun selbst zu Joseph, voll Angst und Furcht. Endlich bereuen sie und stehen zu ihrer Schuld. Sie liefern sich ihm bedingungslos aus: „Siehe, wir sind deine Knechte.“ Sollte Josef tun, was gerecht war: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Doch Josef antwortet: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt?“ Er verzichtete auf Rache. Er durchbricht den Teufelskreis der Vergeltung. Er vergibt. Er lässt los. Josef und seine Brüder reden miteinander. Es wird endlich ausgesprochen, was geschehen ist. Die Brüder bereuen, was sie Böses getan haben. Die Reue, das Bekenntnis der Schuld und die Bereitschaft die Konsequenzen zu tragen, das alles führt zur Vergebung und zur Versöhnung zwischen den Brüdern.

Immer wieder redet die Bibel von Vergebung. Leicht ist es nicht, zu vergeben. Aber ohne Vergebung kann ein Leben nicht gelingen. Ärger und Rachedanken und alte Verletzungen und Beleidigungen können unser Leben vergiften. Wenn Jesus uns aufruft zu vergeben, dann geschieht das, damit wir unseres Lebens wieder froh und glücklich werden. Vergebung gehört nicht nur zur Nächstenliebe. Vergebung ist auch Teil der Liebe zu mir selbst.

Vergebung bedeutet nicht, alles unter den Teppich zu kehren. „Ich vergebe dir“, ist nicht einfach ein: „Wird schon wieder“. Zum Vergeben gehört es, die Dinge auszusprechen und wenn möglich miteinander einen Weg zu suchen, wie zwei Menschen sich weiterhin in die Augen schauen können. Manchmal, so erleben wir es, ist eine Seite nicht willig sich zu versöhnen. Dann dürfen wir dennoch, an uns selbst arbeiten, auf Vergebung hin, von unserer Seite.

Verzeihen ist ein Akt der aktiven Lebensgestaltung, denn wir übernehmen damit Eigenverantwortung. Wer vergeben kann, öffnet sich für Neues. Wer vergibt, muss nicht die Tat vergessen, also aus dem Gedächtnis streichen. Negative Erfahrungen machen uns ja vorsichtiger. Vergeben bedeutet auch nicht, dass man eine Tat nun „gut heißt.“ Vergeben heißt: ich entscheide mich dazu, nicht länger zuzulassen, dass die Tat eines anderen Menschen mein Leben dauerhaft negativ beeinflusst.

Die Joseferzählung der Bibel ist eine zutiefst menschliche Geschichte. In ihr begegnen sich Menschen in allem, dessen sie fähig sind: in abgrundtiefem Hass wie in liebender Vergebung. Und sie lässt uns erkennen, wie Gottes Handeln in tiefster Weltlichkeit verborgen ist, dass wir - auch, wenn wir es nicht wahrnehmen - mitten in Gottes Heilsgeschichte stehen; in Glück und Leid, da, wo uns vergeben wird, da, wo wir selbst anderen vergeben.

Dietrich Bonhoeffer sagt: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen ... Ich glaube auch, dass auch unsere Fehler unsere Unzulänglichkeiten und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.“

Unter den Augen der Liebe Gottes bekommt alles Glück und alles Unglück dieser Welt seinen Sinn, denn Gott will, dass wir unseren Frieden finden und Versöhnung, damit wir heil werden an Leib und Seele. Amen

Ihr Pfarrer Rainer Janus