Wort zum Pfingstfest – 23. Mai 2021

Obwohl sie nur 9 kurze Verse umfasst, gehört sie zu den bekanntesten Geschichten der Bibel:

Die Geschichte vom Turmbau zu Babel.

Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst.

Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.

Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.

Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der HERR von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde (1. Mose 11, 1-9).

Ich weiß nicht, ob Sie den Burj Khalifa kennen. Der Burj Khalifa steht in Dubai Downtown und ist mit 829,8 Metern das höchste Gebäude der Welt. 330.000 Kubikmeter Beton wurden verbaut. Als Fundament hat man 850 Betonpfähle bis zu 70 Meter tief in die Erde gerammt.12.000 Arbeiter haben das Gebäude in 22 Millionen Arbeitsstunden errichtet. Der Bau war eine gigantische Leistung des amerikanischen Architekten Adrian Smith.

Die Menschen haben nicht aufgehört, Türme zu bauen, die bis in den Himmel reichen. Weitere Gebäude sind in Planung und im Bau, die sich noch höher und noch gewaltiger über die Erde erheben. Der Jeddah Tower in Saudi-Arabien soll 1007 Meter hoch werden. Nicht wegen Sprachverwirrung, sondern aus finanziellen Gründen herrscht seit mehreren Jahren Baustopp.

Diese Wolkenkratzer werden auch die Kathedralen des Kapitalismus genannt. Sie repräsentieren Geld, Macht und Wirtschaftskraft. Und der Begriff „Kathedrale“ erinnert uns daran, dass auch die christlichen Kirchen mit ihren Kirchtürmen stets hoch hinaus wollten. Das Ulmer Münster hat mit 161 Metern den höchsten Kirchturm der Welt.

Genaugenommen spricht unser Bibelwort aber nicht nur von einem Turm. Die Menschen sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen. Und das hebräische Wort, das hebräische Wort, das Luther mit Turm übersetzt, meint wohl eher eine Burg, eine Zitadelle oder einen Wehrturm.

Es ist verständlich und nachvollziehbar, dass Menschen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel nehmen und Häuser bauen, Städte, in denen sie gut und sicher wohnen. Burg, Zitadelle und Wehrturm dienen als Schutz vor Feinden. Was könnte Gott daran stören? Was könnte Gott bei seiner Inspektion auf Erden daran auszusetzen haben?

Eigenheimbesitzer und Wohnungsmieter können aufatmen. Die Wohnung, die wir brauchen, schätzen und die uns wert und teuer ist, die ist Gott kein Dorn im Auge. Angemessener, bezahlbarer Wohnraum ist wichtig, auch für das soziale Miteinander. Und angesichts der zerstörten Häuser in Israel und um Gazastreifen muss man sagen: Menschen werden entwurzelt. Sie verlieren ein Stück Heimat. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, dass alle Menschen gut und sicher wohnen können. Krieg und Gewalt zerstören, was mit Müh und Arbeit errichtet und gestaltet wurde.

Gott geht es um die Maßlosigkeit der Menschen. Die Menschen erkennen in ihrer Unvernunft keine Grenzen. Sie zerstören die Schöpfung, die ihnen anvertraut ist, sie zu bebauen und zu bewahren. Die antike Stadt Babylon mit ihren gigantischen Palästen und Tempelanlagen ist nur der Anfang. Der Größenwahn der Menschen schreitet von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrtausend zu Jahrtausend weiter fort.

Wir lesen das alte Bibelwort vom Größenwahn der Menschen heutzutage mit anderen Augen. Im Jahr 1972 hat der Club of Rome seinen Bericht zur Lage der Menschheit veröffentlicht unter dem Titel: Die Grenzen des Wachstums. Die Wissenschaftler zeigen auf, wohin Wettrüsten, Wirtschaftswachstum und Bevölkerungsexplosion führen, wenn nicht rechtzeitig Vernunft einkehrt. Seither ist das Bewusstsein gewachsen, dass diese Erde ein begrenzter Lebensraum ist und sie nur begrenzte Ressourcen hat. Die aktuellen Entwicklungen zeigen allerdings, dass der Mensch die Grenzen des Wachstums bereits überschritten hat. Habgier und Machtgier fressen sich in die Natur hinein, wie ein wucherndes Krebsgeschwür in den Körper eines Menschen.

Vielleicht hätte Gott mehr tun müssen, als die Menschen zu zerstreuen und ihre Sprache zu verwirren. Im Hebräischen heißt verwirren balal und das ist natürlich ein Wortspiel zu Babel. Und Babel ist ein Bild für die Sucht der Menschen steht, immer mehr zu wollen, immer größer zu bauen, immer mehr zu verbrauchen.

Aber ist, was Gott den Menschen in ihrer Selbstüberhebung als Strafe zumutet, wirklich eine echte Strafe? Unterschiedliche Sprachen haben auch dazu geführt, dass Menschen in unterschiedlicher Weise denken. Unterschiedliche Sprachen bringen Vielfalt und neue Sichtweisen mit sich. Eine neue Sprache zu erlernen, bedeutet auch neue Horizonte, Kulturen und Mentalitäten kennen und schätzen zu lernen. Vielleicht hat dieser Gott den Menschen ein Geschenk gemacht und gleichzeitig auch ein Instrument an die Hand gegeben, ihre Hybris zu überwinden. So wie wir lernen können, eine fremde Sprache zu verstehen und zu sprechen, so können wir lernen unsere Mitmenschen zu verstehen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Wahrnehmung und Kommunikation sind die ersten Schritte auf dem Weg zur Versöhnung und zum Frieden. Wir lernen das gerade wieder neu in der Integrationsarbeit mit den Geflüchteten unserer Tage.

Es gibt nur eine Sprache, die alle Menschen verstehen. Und diese Sprache ist die Sprache der Liebe. Auch wenn jemand nicht mit Französisch und Englisch glänzen kann, die Sprache der Liebe kann jeder erlernen, denn sie ist unser aller Muttersprache. Sie ist uns in die Wiege gelegt. Und so, wie wir von Kindesbeinen an Liebe erfahren haben, so können wir diese Liebe auch weitergeben.

Das Pfingstwunder hebt die babylonische Sprachverwirrung auf, weil der Geist der Liebe weht und die Botschaft Jesus von der lebendigen Nächstenliebe verkündigt wird. Gemäß dem Pfadfindermotto „Jeden Tag eine gute Tat“ können wir als Christen Tag für Tag der Liebe eine Chance geben, mit liebevollen Gedanken, Worten und Werken. Den Mitmenschen mit den Augen der Liebe zu sehen, lehrt uns das rechte Maß zu finden und alle Maßlosigkeit zu überwinden.

Der Lauf der Zeit hat Babylon und manch anderes Werk aus Menschenhand in Schutt und Asche gelegt. Ziegel und Erdpech sind nicht für die Ewigkeit gemacht. Und so mancher, der sich einen Namen machen wollte, ist längst schon vergessen. Allein Gottes Liebe überwindet die Vergänglichkeit und reicht über alle Irdische hinaus. Darum sagt die Bibel, wer in der Liebe bleibt (wer die Sprache der Liebe spricht und versteht), der bleibt in Gott und Gott in ihm - in Zeit und Ewigkeit. Amen.

Ihr Pfarrer Rainer Janus