Wort zum Sonntag – 18. April 2021

Der Prophet Hesekiel berichtet:

Und des HERRN Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? …

So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.

Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten …

Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels.

Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. …

Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR. (Hesekiel 34 in Auswahl)

Es gehört zu den enttäuschenden Erfahrungen unseres Lebens, dass es neben den guten Hirten auch schlechte Hirten gibt - Hirten, die nicht das Wohl der Herde im Blick haben, sondern ihren eigenen Vorteil suchen. Enttäuschtes Vertrauen ist besonders bitter und der Prophet Hesekiel hatte von Gott den Auftrag, diesen schlechten Hirten zu sagen, dass Gott ihrem Treiben ein Ende setzt und Rechenschaft von ihnen fordert.

Gerne und schnell geraten unsere Politikerinnen und Politiker in den Blick und alle, die in unserer Gesellschaft Verantwortung tragen und Macht verkörpern. In einer Predigt über dieses Prophetenwort heißt es: „Wehe euch, ihr sogenannten Volksvertreter! Ihr weidet nur euch selbst. Ihr schaut bloß auf euren eigenen Vorteil. Wo bleibt dabei eure Herde? Um die sollt ihr euch doch kümmern! Aber ihr lebt lieber in Saus und Braus. Ihr erhöht fleißig eure Diäten. Mit Steuern und Abgaben holt ihr euren Schutzbefohlenen noch das letzte Geld aus der Tasche. Eurem Auftrag aber, zu dem ihr gewählt seid, dem kommt ihr nicht nach! Und noch schlimmer: Auf die Schwachen nehmt ihr keine Rücksicht. Wer krank ist, den unterstützt ihr nicht. Wer eine Last zu tragen hat, dem legt ihr noch eine drauf. Wer mit eurem System nicht zurechtkommt, den bestraft ihr. Wer den Kampf um seine Rechte aufgegeben hat, den vergesst ihr. Und die jungen Leute, die voller Tatendrang sind und die sich einbringen und verwirklichen wollen, die haltet ihr klein und lasst sie nicht hochkommen. Wehe euch!“

Der Ärger, der aus diesen Worten spricht, mag verständlich sein. Dennoch erscheinen mir die Vorwürfe zu pauschal und damit ungerecht. Schließlich kennen wir unter den politisch Aktiven auch jene, die sich redlich mühen und die sozialen Folgen ihres Handelns sehr wohl im Blick haben.

Wer Kritik übt, der sollte sich auch die Mühe machen, die Fakten und Zusammenhänge zu verstehen. Ein Ablästern auf Stammtischniveau hilft vielleicht, dem eigenen Ärger Luft zu schaffen, aber es trägt nicht dazu bei, die Situation zu verbessern.

Mit Hitler und dem Nationalsozialismus ist unser Land unter die Räuber gefallen, um ein Beispiel aus der Geschichte zu nennen. Der Führer war ein Verführer. Und Dietrich Bonhoeffer hatte recht, wenn er davon sprach, dass es eine moralische Pflicht sei, dem Rad in die Speichen zu fallen und dem bösen Treiben ein Ende zu setzen. Hier war die Stimme der christlichen Kirche zu kleinlaut und erst nach dem Krieg haben die kirchlichen Hirten im Stuttgarter Schuldbekenntnis beklagt, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.

Und vielleicht öffnet uns gerade diese Erfahrung aus der Geschichte unseres Landes einen Zugang zu diesem Prophetenwort, der über eine pauschale Politikerschelte weit hinausgeht. Denn wir alle tragen mit an der Verantwortung eines Hirten, ein jeder in seinem Bereich.

Als Familie tragen wir Verantwortung füreinander und leisten, wenn das Miteinander gelingt, einen Beitrag zu Wohl des anderen. Unternehmer tragen Verantwortung für ihre Arbeitnehmer, Ärzte für ihre Patienten.

Lehreinnen und Erzieher prägen Kinder und Jugendliche und eröffnen ihnen Lebensperspektiven. Aber selbst Handwerk und Verwaltung können Spielräume nutzen, die dem Wohl des Lebens dienen. Unser aller Reden oder Schweigen, unser Tun oder Lassen trägt zum Gelingen oder Misslingen eines guten Miteinanders bei.

Vielleicht hatte der Prophet Hesekiel auch die religiösen Hirten mit im Blick. Im Norddeutschen werden die Pfarrer auch Pastoren genannt – und Pastor ist das lateinische Wort für Hirte. Vom Schweigen der Hirten war im Zusammenhang der coronabedingten Absage von Gottesdiensten die Rede. Und manchmal reden diese Hirten zu viel und halten lange Predigten, ohne auf den Punkt zu kommen oder ihren Worten Taten folgen zu lassen. Ganz unschön wird es, wenn solche Hirten anvertraute Kinder sexuell missbrauchen oder solche Taten mit ihrem Schweigen decken.

Ich möchte Martin Luther erwähnen. Genau heute vor 500 Jahren hat er vor dem Reichstag zu Worms das Evangelium gegen die bösen Hirten jener Zeit verteidigt. „Hier stehe ich!“ „Gott helfe mir!“ Die Reformation, die Luther ins Leben gerufen hat, richtete sich gegen eine Kirche, die mit ihrem Ablasshandel den Armen das Geld aus der Tasche zog, um selbst in Saus und Braus zu leben. Wir kennen die Geschichte und wir fragen uns, wie es um die Kirche und ihre Botschaft bestellt wäre, wenn es Menschen wie Luther nicht gegeben hätte, wenn der kleine Mönch aus Wittenberg nicht aufrecht geblieben wäre, wenn er den Mächten jener Zeit, Kaiser und Papst, nicht widerstanden hätte.

Und ich denke auch an den Werteverfall und die Verrohung in unserer Gesellschaft heute. Ich denke an die Lehrer, die lieber wegschauen, als auf die Einhaltung von Regeln zu achten, weil sie keinen Rückhalt aus dem Elternhaus verspüren. Ich denke an eine Polizei, die müde geworden ist, einzugreifen, weil Politik und Justiz längst nicht hinter ihr stehen. Ich denke an die Eltern, die bei der Erziehung ihrer Kinder versagen, weil sie selbst Orientierung bräuchten.

Mit dem Werteverlust geht auch der Verlust von Glauben einher. Wenn ich mir selbst der Nächste bin, dann brauche ich keinen Herrn und Heiland, der mir sagt: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Wenn ich selbst und mein Wohl der alleinige Maßstab meines Denkens und Handelns sind, dann gibt es keinen plausiblen Grund, mich für das Wohl der Armen und Benachteiligten zu interessieren. Wer nicht zu den Erfolgreichen gehört, ist und bleibt dann halt ein Opfer.

Schlimmer als der Wolf im Schafspelz, so macht es der Prophet Hesekiel deutlich, ist der Wolf im Hirtengewand. Aber die gute Botschaft ist: Auch wenn alle menschlichen Hirten versagen, so hat die Welt dennoch einen guten Hirten, einen, der seine Herde behütet und seinen Geschöpfen treu bleibt. Denn Gott bleibt sich selbst treu. Was er in Liebe geschaffen hat, soll Leben in Fülle genießen. Seine Geschöpfe sollen teilhaben an der Schönheit und am Reichtum der Schöpfung.

Der gute Hirte allen Lebens blendet dabei die Realität dieser Welt nicht aus. Er sieht auch das, was schmerzt und Wunden zufügt. Er sieht die Lieblosigkeit und die Gleichgültigkeit der Menschen. Er sieht, wie sie einander schaden, wie sie auf Kosten anderer sich bereichern, einander Gewalt antun und sogar Krieg führen, obwohl er einem jeden das Geschenk der Liebe mit in die Wiege gelegt hat.

Und das ist es, an was uns der Prophet mit seinen harten Worten über die schlechten Hirten erinnern will: Lasst diese Liebe aufkeimen in euren Herzen. Lasst diese Liebe wachrufen und wachsen durch euren Glauben und euer Vertrauen auf diesen guten Hirten. Helft mit, das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten.

Helft mit, Gottes Reich der Gerechtigkeit und des Friedens aufzubauen. Helft mit, andere Menschen einzuladen, im Geiste der Liebe zu denken und zu handeln. Bleibt aufrecht und werdet zu guten Hirten für die Menschen, die Euch auf dem Weg des Lebens begleiten. Amen.

Ihr Pfarrer Rainer Janus