Wort zum Osterfest

Im Buch der Offenbarung beschreibt der Seher Johannes eine Vision in wunderbaren Bildern:

Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?

Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen.

Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.

Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Wesen und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande. Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß.
Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Wesen und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen, und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen und hast sie unserm Gott zu einem Königreich und zu Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden.

Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Wesen und um die Ältesten her, und ihre Zahl war zehntausendmal zehntausend und vieltausendmal tausend; die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Und die vier Wesen sprachen: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an (Offenbarung 5, 1-14).

Ein Buch mit sieben Siegeln. Dieser Ausdruck ist schon längst zu einem geflügelten Wort geworden. Es handelt sich um etwas Geheimnisvolles, das nur schwer zu enträtseln ist. Sieben Siegel wollen erst geöffnet sein, bis man zum Kern der Sache vordringen kann.

Die Offenbarung des Johannes, das letzte Buch unserer Bibel, ist ja selbst ein Buch, das viele Fragen aufwirft, das immer wieder Bilder zeichnet, die wir uns kaum vorstellen können. Und dennoch oder vielleicht gerade deshalb beschäftigen sich immer wieder Menschen mit den Visionen des Sehers Johannes und versuchen die Rätsel des Lebens zu lösen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist meine Aufgabe? Es geht um die Frage nach dem Sinn unseres Lebens, nach dem, was die Zukunft uns bringen mag.

Wer aber vermag dieses Buch mit sieben Siegeln zu öffnen? Wer vermag zu sagen, welchen Sinn unser Dasein hat und was die Zukunft uns bringen wird?

Auch unsere heutige Zeit kennt Visionen - aber es sind oftmals Schreckensvisionen: Was, wenn die Coronaviren sich verändern und Impfstoffe nicht mehr schützen? Welche Flüchtlingsströme werden Hunger und Klimaveränderung noch auslösen? Und welche Folgen wird das für uns haben?

So manche Bilder der letzten Wochen und Monate erinnern an apokalyptische Szenarien: Nach den Waldbränden die Überschwemmungen in Australien. Soldaten, die auf Demonstranten schießen in Myanmar. Viele Menschen können und wollen die Not und das Leid nicht mehr sehen und verschließen deshalb ihre Augen, ihre Ohren und ihre Herzen vor der Not und dem Schrecken dieser Zeit. - Aber so soll es nicht sein. Auch wir sollen genau hinhören und genau hinsehen, so wie jener Seher Johannes.

Johannes sieht nicht nur das geheimnisvolle, verschlossene und versiegelte Buch in seiner Rechten. Ein Bild, das ihn ja zum Weinen bringt, weil er die ganzen Rätsel seiner eigenen Person und der ganzen Welt in diesem Buch verborgen sieht - und niemanden, der die sieben Siegel öffnen könnte.

Der Blick des Sehers wird gelenkt auf die Gestalt des Löwen aus dem Stamme Juda, der allein würdig ist, das Buch zu öffnen und die Rätsel dieser Welt zu lösen. Hier bekommt dieses Bild etwas Tröstliches - etwas Österliches. Mitten in einer Welt der Schreckensvisionen, die Erwartung, dass es doch jemanden gibt, der unserem Leben Sinn und dieser Welt Zukunft gibt. Und auch unsere Augen sollen ein Bild der Hoffnung sehen.

Wir kennen dieses Motiv aus dem Märchen. Wer ist würdig, die Königstochter aus den Klauen des feuerspeienden Drachen zu befreien? Wer ist würdig, den kostbaren Edelstein aus dem Zauberberg zu holen? Es ist immer nur einer. Viele versuchen es, aber nur einem gelingt es. Und dieser eine ist niemals der Starke, der Stolze, der Hochmütige. So kann es nicht verwundern, dass der Löwe aus dem Stamme Juda uns als Lamm vor Augen gestellt wird. Es ist derselbe, der nicht hoch zu Ross, sondern auf einem Esel in die Stadt König Davids einzieht. Es ist Christus, der Herr in der Stadt Davids, der Retter und Erlöser dieser Welt.

Die Siebenzahl ist insofern die Vollzahl als dass sie Himmel und Erde verbindet. Sie setzt sich zusammen aus der Zahl Vier, die für alles Irdische steht, nämlich die vier Elemente, die vier Himmelsrichtungen, und die Zahl Drei, als die Zahl der himmlischen Trinität. Sieben Hörner hat der, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden. Sieben Augen sehen die Herrlichkeit des Himmels und die Vergänglichkeit alles Irdischen.

Durch seinen Gehorsam bis zum bitteren Kreuzestod hat er Gott die Ehre gegeben. Ihn setzt Gott ein zum Richter über die Welt. Er soll den Plan Gottes mit dieser Welt vollenden. Ihm übergibt Gott das Buch und nur der, der sein Leben in Liebe dahingegeben hat, kann die sieben Siegel lösen.

In einer Welt, die das Recht des Stärkeren kennt und danach lebt, bekommt der die Herrschaft in die Hände gelegt, der das Recht des Schwächeren kennt. Geboren als Kind armer Leute im Stall, gelebt mit den Randsiedlern der Gesellschaft und gestorben wie ein Verbrecher, steht er konsequent auf der Seite derer, die Gewalt und Hunger leiden, auf Seiten der Armen und Benachteiligten dieser Erde. In seiner Person findet die Frage nach dem Sinn unseres Lebens eine Antwort.

Das Lamm ist ein Symbol. Es steht für ein Opfer, das geschlachtet wird, das leiden muss, um den Menschen in seiner Unmenschlichkeit mit Gott zu versöhnen. Und wenn heute die Frage laut wird, wo ist Gott - angesichts des grauenvollen Leidens der Menschen in den Kriegs - und Hungergebieten? Dann kann die Antwort nur lauten: Er ist da! Er leidet mit! Er leidet hundertfachen Tod und hundertfache Pein.

Und so heißt es in unserem Predigtabschnitt von diesem Lamm: Du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen.

Wie kann Versöhnung geschehen? Wie können die Opfer von Gewalt und Krieg ihren Peinigern je wieder in die Augen sehen? Und wie die Peiniger ihren Opfern? Es gibt nur eine Macht dieser Welt, die alles Trennende zu überwinden vermag. Und das ist die Macht der Liebe. Es ist die Kraft, die sich den Opfern der Unmenschlichkeit zuwendet, bedingungslos und ohne die Schuldfrage zu stellen.

Es gibt tausend Gründe, sich das Mitleid zu ersparen. Aber es gibt nur einen einzigen Grund, den Mitmenschen zu lieben wie sich selbst, und das ist die Liebe, die Jesus Christus uns vorgelebt hat.

Im Grunde ist es dem gesunden Menschenverstand klar, dass Liebe weiterführt als Lieblosigkeit. Aber derselbe Verstand sagt uns auch, dass Lämmer gefährdeter leben als Löwen. Wir müssen immer wieder erleben, wie die Liebe überrollt wird von Hass und Gewalt. Und das ist genau die Spannung, die wir Christen in dieser Welt aushalten müssen: Angesicht der Schrecknisse dieser Welt festhalten an der Ohnmacht der Liebe Gottes.

Ostern richtet unseren Blick auf die Zukunft. Und darauf, dass unsere Zukunft in seinen guten Händen liegt. Er hat den Tod überwunden. Wir dürfen gewiss sein, dass seine Liebe keine Grenzen kennt, dass er die Rätsel unseres Lebens lösen wird und wir dereinst das Geheimnis Gottes schauen werden. Das gibt uns Kraft, in dieser Welt und ihren Schrecken zu bestehen und den Mut nicht zu verlieren. Das gibt uns Kraft, gegen die Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit im Einklang mit den Engeln des Himmels und den Geschöpfen der Erde davon zu singen, dass die Nacht zu Ende geht und der Tag nahe herbeigekommen ist. Amen.

Ihr Pfarrer Rainer Janus