Wort zum Sonntag – 24. Januar 2021

Eingegrenzt von Spree und Westhafenkanal liegt mitten in Berlin der Stadtteil Moabit.

Dieser seltsamer Name geht vermutlich zurück auf die Hugenotten, die Ende des 17. Jahrhunderts dort ansässig wurden.

Sie nannten ihren Zufluchtsort in Anlehnung an die alttestamentliche Geschichte von Noomi und Rut „terre de Moab“ – Land Moab. Daraus wurde Moabit.

Im Buch Rut lesen wir: Zu der Zeit, als die Richter richteten, entstand eine Hungersnot im Lande. Und ein Mann von Bethlehem in Juda zog aus ins Land der Moabiter, um dort als Fremdling zu wohnen, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. Der hieß Elimelech und seine Frau Noomi und seine beiden Söhne Machlon und Kiljon; die waren Efratiter aus Bethlehem in Juda.

Und als sie ins Land der Moabiter gekommen waren, blieben sie dort. Und Elimelech, Noomis Mann, starb, und sie blieb übrig mit ihren beiden Söhnen. Die nahmen sich moabitische Frauen; die eine hieß Orpa, die andere Rut. Und als sie ungefähr zehn Jahre dort gewohnt hatten, starben auch die beiden, Machlon und Kiljon. Und die Frau blieb zurück ohne ihre beiden Söhne und ohne ihren Mann.

Da machte sie sich auf mit ihren beiden Schwiegertöchtern und zog aus dem Land der Moabiter wieder zurück; denn sie hatte erfahren im Moabiterland, dass der HERR sich seines Volkes angenommen und ihnen Brot gegeben hatte. Und sie ging aus von dem Ort, wo sie gewesen war, und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr. Und als sie unterwegs waren, um ins Land Juda zurückzukehren, sprach sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern: Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter! Der HERR tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt. Der HERR gebe euch, dass ihr Ruhe findet, eine jede in ihres Mannes Hause! Und sie küsste sie.

Da erhoben sie ihre Stimme und weinten und sprachen zu ihr: Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen. Aber Noomi sprach: Kehrt um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten? Kehrt um, meine Töchter, und geht hin; denn ich bin nun zu alt, um wieder einem Mann zu gehören. Und wenn ich dächte: Ich habe noch Hoffnung!, und diese Nacht einem Mann gehörte und Söhne gebären würde, wolltet ihr warten, bis sie groß würden? Wolltet ihr euch einschließen und keinem Mann gehören? Nicht doch, meine Töchter! Mein Los ist zu bitter für euch, denn des HERRN Hand hat mich getroffen.

Da erhoben sie ihre Stimme und weinten noch mehr. Und Orpa küsste ihre Schwiegermutter, Rut aber ließ nicht von ihr. Sie aber sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach. Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.

Als sie nun sah, dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden. So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen. (Rut 1, 1-19a)

Die Hugenotten damals in Berlin waren Glaubensflüchtlinge, Menschen, die in Frankreich um ihrer Religion willen schikaniert und verfolgt wurden. Noomi und ihre Familie sind ins Nachbarland geflohen, weil sie durch die Hungersnot keine materielle Lebensgrundlage mehr hatten. Bethlehem heißt übersetzt Brothausen. Aber es gab kein Brot, sondern Hunger in Brothausen.

Die Fluchtursachen sind unterschiedlich, aber das Ergebnis ist über Jahrhunderte und Jahrtausende immer dasselbe: Die Geflüchteten müssen zurechtkommen mit einer fremden Lebenssituation, meist auch mit einer fremden Sprache, einer fremden Kultur und religiösen Prägung. Und den Einheimischen ergeht es nicht viel anders: In einigen Fällen gelingt die Integration. Aus Fremden werden Freunde. Aber in anderen Fällen gelingt das eben ganz und gar nicht. Manchmal fehlt es am guten Willen und an Einsicht auf der einen oder der anderen Seite.

Hier in Friesenheim gibt es das Netzwerk Solidarität, ehrenamtlich Aktive, die zur Verständigung beitragen und mithelfen, dass Integration gelingt und die Geflüchteten in unserer Gesellschaft sicher wohnen und leben können. Wie alles andere auch, ist das in Zeiten der Kontaktbeschränkungen zum Infektionsschutz besonders schwierig und besonders zermürbend. Aber wenn die Geflüchteten eines Tages zurückkehren können in ihre Heimatländer, dann sollten sie doch gute und wertschätzende Erinnerungen an ihren Asylaufenthalt hier bei uns begleiten.

Die Hugenotten waren damals willkommen in Berlin und auch bei uns in Baden. Nach dem dreißigjährigen Krieg war ganz Deutschland entvölkert und die Hugenotten brachten wertvolles Wissen und technisches Können mit. Von manchen Weltkriegsvertriebenen habe ich andere Geschichten gehört. Und auch heute erleben Menschen mit Migrationshintergrund vielfach Ablehnung und Anfeindung.

Noomi heißt übersetzt „Lieblichkeit“. Ursprünglich hatte der Name die Bedeutung „Gott ist Lieblichkeit“ oder „Gott ist liebevoll“. Und Noomi verkörpert geradezu die Liebe Gottes. Sie muss Schicksalsschläge hinnehmen wie einst Hiob. Sie verliert Mann und Kinder, ist schutzlos einer fremden Kultur ausgeliefert. Aber selbst in dieser Situation denkt sie nicht allein an sich selbst, sondern auch an ihre beiden Schwiegertöchter. Als Witwen ohne Kinder hatten alle drei in der Gesellschaft jener Zeit keinen Platz mehr, weder in Moab, noch in Juda. Aber die jungen Frauen hatten wenigstens die Chance, noch einmal zu heiraten. Damit wären sie sozial abgesichert.

Orpa folgt diesem Rat. Ihr Name bedeutet übersetzt „die ihren Rücken Kehrende“. Sie ist die Vernünftige. Und sie macht das Beste aus ihrer Situation. Wer wollt ihr das verübeln? Orpa bleibt in ihrem Heimatland, in ihrem vertrauten Kulturkreis, und sucht dort einen neuen Anfang und ihre soziale Sicherheit.

Für den Namen Rut gibt es verschiedene Deutungen. Eine davon ist „Freund oder Freundin“. Und tatsächlich wird Rut ihrer Schwiegermutter Noomi zur Freundin. Sie weiß, dass Noomi als ältere und alleinstehende Frau in ihrer Heimat keine aussichtreiche Zukunft hat. Und sie bleibt ihrer Schwiegermutter als Wegbegleiterin treu, will mit ihr das Schicksal teilen, auch wenn das ihre eigenen Möglichkeiten einschränkt.

Und hier fallen nun diese berühmt gewordenen Worte: Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der HERR tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden.

Es soll Pfarrer geben, die dieses Wort als Trauspruch ablehnen, weil hier die Schwiegertochter der Schwiegermutter die Treue verspricht. Ich denke, dass diese Worte ganz gut zu einer Trauung passen und dass auch Ehepartner sich mit diesen wunderbaren Worten die Treue versprechen können.

Noomi, die Liebevolle, und Rut, die Freundin, gehen ihren bitteren Weg in ein ungewisses Schicksal. Aber Gott bringt diesen Weg zu einem wunderbaren Ende: Er macht Rut zur Mutter des Königshauses David und begründet damit auch die Ahnenreihe aus der Jesus Christus stammt, der ja aus dem Hause und Geschlechte Davids war. Ausgerechnet eine Ausländerin, eine Moabiterin, wird zur Ursache für die Erlösung und Errettung seines Volkes und aller Völker.

Wir alle sind fast überall auf dieser Welt Ausländer und Fremde. Die Mentalitäten der Menschen unterscheiden sich wie ihre Sprachen und Kulturen. Sie sind so bunt und vielfältig wie die Natur selbst. Aber für Gott ist kein Mensch fremd. Für ihn sind wir alle eine große Familie. Gott liebt alle sein Geschöpfe - gleichermaßen. Und da, wo Menschen liebevoll miteinander umgehen, wo sie Freundinnen und Freunde werden, wo sie füreinander treue und verlässliche Wegbegleiter werden, da schenkt Gott seinen Frieden, seinen Shalom, dazu.

Er schenkt seinen Frieden Ehepartnern, Schwiegermüttern und Schwiegertöchtern, Eltern und Kindern, Freundinnen und Freunden, Nachbarn, die es gut miteinander meinen, Pflegekräften, die sich kümmern, allen Menschen, die sich von seinem liebevollen Geist leiten lassen. Und in Jesus Christus hat er uns allen gleichermaßen seine Treue verheißen mit den Worten, die uns in der Taufe zugesprochen werden: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. Amen.

Pfarrer Rainer Janus