Wort zum Sonntag – 09. August 2020

Liebe Leserinnen und Leser,

Propheten sind Menschen, die die Wahrheit aussprechen, auch wenn sie schmerzt.

Und vielleicht bräuchte unsere Welt heute nichts dringender als solche Menschen: Menschen, die sich trauen, Unrecht als Unrecht zu benennen. Menschen, die aufzeigen, wohin der Weg führt, wenn ein jeder nur seinen eigenen Vorteil sucht. Menschen, die uns auf den Weg bringen hin zu einer neuen Normalität. Menschen, die uns helfen aus den Fehlern der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen.

Aber mit der Wahrheit macht man sich bekanntlich keine Freunde und Prophet zu werden ist sicher kein Zuckerschlecken. In der Bibel wird berichtet, wie Jeremia versucht, sich davor zu drücken, aber dennoch von Gott in den Dienst gerufen wird: Und des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen. Jeremia 1, 4-10

Die Wahrheit ist oft unbequem. Viele Menschen neigen dazu, die Wahrheit zu verdrängen, die Augen zu verschließen, sich etwas in die Tasche zu lügen. „Was ist Wahrheit?“ fragt Pilatus, als er den Gerechten zum Tod am Kreuz verurteilen soll, den der ohne Sünde ist. Aber er steht politisch unter Druck. Er will sein Schäflein ins Trockene bringen und spricht sein Urteil wider besseres Wissen. Liebe zur Wahrheit hätte zu einem anderen Urteil geführt.

Man muss nicht Jeremia heißen, um angefeindet zu werden, weil man den Menschen die Wahrheit vor Augen führt. Die Umweltaktivistin Greta Thunberg wird und wurde massiv angefeindet! Geschah das vielleicht deshalb, weil ihre Reden unangenehm viel Wahrheit enthielten, z. B. über jene Menschen die Raubbau an der Natur treiben, diesen fördern oder zulassen. Die Journalistin Dunja Hayali wurde in Berlin bedroht und beschimpft. Warum? Vielleicht weil sie eine Maske trägt und damit Respekt zeigt vor der Gesundheit von Mitmenschen. Ist das schon zu viel der Wahrheit?

Ohne Anfeindungen ist das Leben einfacher. Wer keine Stellung bezieht, der eckt auch nicht an. Einfacher ist es, wenn man zur schweigenden Mehrheit gehört.

Jeremia will sich drücken und sucht eine Ausrede: Ich bin zu jung! Mach einer würde wohl sagen: Dafür bin ich zu alt, zu ungeschickt, zu beschäftigt. Einst wollte Mose nicht zurück nach Ägypten, weil er angeblich nicht gut genug reden konnte. Der Prophet Jona wollte sich in Ninive nicht aus der Stadt jagen lassen und suchte sich ein Schiff, um seinem Auftrag zu entfliehen.

Aber Ausreden halten vor der Wahrheit nicht stand. Und sie halten auch vor Gott nicht stand. Jedenfalls lässt Gott sich nicht mit Ausreden abspeisen: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete.

Die Begegnung mit Gott verändert ein Leben. Wer einmal mit der Wahrheit Gottes in Berührung gekommen ist, den lässt sie nicht mehr los.

Jeremia war der Prophet des Exils. Jerusalem war zerstört. Der Tempel war zerstört. Die Bevölkerung wurde deportiert. Aber ausgerechnet in dieser schweren Zeit beginnt etwas, das unser Weltgeschehen bis auf den heutigen Tag prägt. Not lehrt bekanntlich beten. Aber Not lehrt auch, Fragen zu stellen. Und die Menschen suchen in dieser verheerenden Katastrophe nach Antworten auf ihre Lebensfragen. Sie suchen und fragen nach dem Sinn ihres Daseins. Und genau in dieser Situation beginnen die Menschen, das Wort Gottes aufzuschreiben. Die Bibel entsteht und damit das Judentum als erste Schriftreligion.

Die Worte der Propheten werden aufgeschrieben, weil sie Antworten enthalten und Denkanstöße für unsere Lebensfragen, nach dem Woher und Wohin unseres Lebens. Es sind Antworten und Denkanstöße, die Sinn machen und Sinn ergeben, nicht nur in der Not jener Zeit, sondern gerade auch in den vielgestaltigen Nöten unserer Tage.

Wir kommen an der Wahrheit nicht vorbei. Aber wir können versuchen, der Wahrheit zu entfliehen. Die Digitalisierung hat virtuelle Welten geschaffen, die Tagträume zur Sucht machen. Immer mehr Zeit verbringen unsere Kinder und Jugendlichen mit dem Smartphone oder Tablet, aber nicht um zu lernen, sondern um zu spielen, oder um sich fernab von jeglicher Realität in sozialen Netzwerken zu begegnen, wo sogenannte Influencer das Sagen haben und die Werte vorgeben, für die es sich zu leben lohnt.

Die Menschen zur Zeit der Propheten Jeremia mussten erfahren, wie das ist, wenn die Wirklichkeit uns einholt. Opfer der Machtpolitik sind sie geworden. Opfer eines Krieges, der über sie hereingebrochen ist. Vielleicht können die Opfer von Hiroschima und Nagasaki etwas davon nachempfinden, oder die Flüchtlinge aus Syrien und den vielen anderen Orten, an denen Krieg und Verfolgung herrschen. Vielleicht begegnen wir der Wirklichkeit des Lebens da, wo Krankheit und Abschied an unsere Lebenstüre klopfen und Einlass begehren.

Jeremia ließ sich Gottes Wort in den Mund legen. Er begann im Namen Gottes zu sprechen. Er erinnerte die Menschen an ihren Auftrag, ihre Bestimmung. Und Gott macht ihn zum Propheten nicht allein für sein auserwähltes Volk Israel, sondern ausdrücklich zum Propheten für die Völker. Und das Wort Völker steht im hebräischen auch für die Heiden; Völker, die falschen Götzen huldigen, den Gott Israels nicht kennen. Alle Menschen sollen den lebendigen Gott kennenlernen, der Recht und Gerechtigkeit aufrichtet, die Voraussetzung für ein Leben in Sicherheit und Frieden mit aller Kreatur.

Jeremia wählt damit den unbequemeren Weg. Er nimmt persönliches Leid in Kauf, weil er weiß, dass wir der Wirklichkeit nicht entrinnen und erst die Wahrheit uns frei macht für das Leben. Warum tut er das? Er hätte bei seiner Ausrede bleiben können: Ich bin zu jung. Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Anderes ist mir wichtiger.

Aber Jeremia hatte die Zusage Gottes: Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. Rettung und Heil finden wir nicht in den Annehmlichkeiten dieser Welt. Rettung und Heil für unser Leben gibt es nur im Lichte der Wahrheit Gottes, im Lichte seiner Liebe.

Er geht seinen Weg wie einst Josua unter Gottes Segen: Sei getrost und unverzagt? Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.

Jeremia hört das Wort Gottes und lässt sich in seinen Dienst rufen. Und vielleicht ist es das, was der Welt heute fehlt: Menschen, die Gottes Wort hören oder lesen. Menschen, die sich nicht ablenken lassen von der Wirklichkeit und die Zeichen der Zeit erkennen. Menschen, die aufhören ihren eigenen Vorteil zu suchen und beginnen in der Liebe zu leben und im Geist der Liebe die Zukunft zu gestalten.

Du bist nicht zu jung und du bist auch nicht zu alt dafür. Amen

Pfarrer Rainer Janus

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